BGH betont umfassende Beratungspflicht der Sozialtrรคger
Sachbearbeiter eines Sozialtrรคgers mรผssen sich grob auch mit Leistungen anderer Trรคger auskennen und gegebenenfalls entsprechende Hinweise geben. Hierauf sind die Bรผrger angewiesen, damit unser kompliziertes Sozialsystem รผberhaupt funktioniert, betonte der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe in einem am Donnerstag, 2. August 2018, verkรผndeten Urteil (Az.: III ZR 466/16). Danach muss der Landkreis Meiรen als Sozialhilfetrรคger einem Behinderten wegen unzureichender Beratung vermutlich mehrere Zehntausend Euro Schadenersatz bezahlen.
Der heute 34 Jahre alte Klรคger hatte bis 2002 eine Fรถrderschule fรผr geistig Behinderte besucht. Anschlieรend nahm er fรผr zwei Jahre in einer Werkstatt fรผr behinderte Menschen an berufsbildenden Maรnahmen teil.
In der Folgezeit war er nicht in der Lage, ein seinen Lebensunterhalt deckendes Einkommen zu erzielen. Seine auch zur Betreuerin bestellte Mutter beantragte daher Ende 2004 beim Landkreis Meiรen Sozialhilfeleistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung. Dies wurde ihm ab November 2004 bewilligt.
2011 wurde im Landratsamt eine neue Sachbearbeiterin zustรคndig. Diese empfahl der Mutter einen Rentenantrag. Ihr Sohn habe vermutlich Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Rentenversicherung bewilligte eine Erwerbsunfรคhigkeitsrente ab August 2011. Im Rentenbescheid heiรt es, die Voraussetzungen hierfรผr seien bereits seit November 2004 erfรผllt.
Mit seiner Klage forderte der Sohn nun vom Landkreis Schadenersatz in Hรถhe von gut 50.000 Euro. Die Sozialhilfe-Sachbearbeiterin hรคtte bereits 2004 auf den mutmaรlichen Rentenanspruch hinweisen mรผssen. Daher mรผsse der Landkreis die Differenz zwischen Sozialhilfe und verpasster Rente ausgleichen.
Dem ist der BGH nun im Grundsatz gefolgt.
โIm Sozialrecht bestehen fรผr die Sozialleistungstrรคger besondere Beratungs- und Betreuungspflichten”, erklรคrten die Karlsruher Richter zur Begrรผndung. Leistungen verschiedener Trรคger wรผrden hier ineinandergreifen. Dies sei von den Bรผrgern kaum noch zu durchschauen. โEine umfassende Beratung des Versicherten ist (daher) die Grundlage fรผr das Funktionieren des immer komplizierter werdenden sozialen Leistungssystems.”
Eine Beratung, so der BGH, dรผrfe sich daher nicht auf die Beantwortung konkret vorgebrachter Fragen beschrรคnken. Auch sei die Beratungspflicht โnicht auf die Normen beschrรคnkt, die der betreffende Sozialleistungstrรคger anzuwenden hat”. Vielmehr kรถnne โauch von Amts wegen” Anlass bestehen, auf Nachteile eines Antrags oder auf mรถgliche Ansprรผche gegen einen anderen Sozialtrรคger hinzuweisen.
Im konkreten Fall habe die fรผr die Grundsicherung bei Erwerbsminderung zustรคndige Sachbearbeiterin schon 2004 erkennen mรผssen, dass auch Leistungen der Rentenversicherung mรถglich sind. Weil sie dennoch keine Rentenberatung empfohlen habe, habe sie ihre Amtspflichten verletzt. Hierfรผr mรผsse der Landkreis haften.
Das Oberlandesgericht Dresden soll nun nochmals ausdrรผcklich feststellen, dass ein Rentenanspruch bereits 2004 bestand und die genaue Hรถhe der dann fรคlligen Schadenersatzzahlungen berechnen. mwo/fle