Schwerbehinderung: Der Arbeitgeber muss den Arztbesuch zahlen

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Schwerbehinderte Arbeitnehmer haben unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf bezahlte Freistellung fรผr Arzttermine wรคhrend der Arbeitszeit. Neben der allgemeinen Regelung nach ยงโ€ฏ616 BGB greifen fรผr diese Personengruppe zusรคtzliche Schutzrechte nach dem SGB IX. Arbeitgeber mรผssen hier besondere Rรผcksicht nehmen โ€“ auch wenn der Arztbesuch planbar ist.

Gesetzlicher Rahmen: Wann Arzttermine in der Arbeitszeit bezahlt sind

Die meisten Beschรคftigten mรผssen gelegentlich medizinische Termine wahrnehmen. Fรคllt ein solcher Besuch in die Arbeitszeit, stellt sich die Frage: Muss der Arbeitgeber die Abwesenheit bezahlen?

Grundlage dafรผr ist ยงโ€ฏ616 des Bรผrgerlichen Gesetzbuchs (BGB). Dieser erlaubt eine bezahlte Freistellung bei kurzfristiger Verhinderung aus persรถnlichen Grรผnden โ€“ dazu zรคhlt auch ein notwendiger Arzttermin. Allerdings gelten dafรผr drei Voraussetzungen:

  • Medizinische Notwendigkeit: Der Besuch muss aus gesundheitlichen Grรผnden erforderlich sein.
  • Keine Terminoption auรŸerhalb der Arbeitszeit: Wer nachweist, dass es keine zeitlich passende Alternative gibt, erfรผllt diesen Punkt.
  • Kurze Abwesenheit: Die Fehlzeit darf sich nur auf den Termin und die Wegezeit beschrรคnken.

Fรผr Beschรคftigte mit Schwerbehinderung ist die Lage jedoch noch stรคrker zu ihren Gunsten geregelt.

SGB IX erweitert Rechte fรผr Schwerbehinderte deutlich

Fรผr Menschen mit einer Schwerbehinderung (Grad der Behinderung mindestens 50 oder Gleichgestellte) gelten besondere arbeitsrechtliche Schutzregelungen nach dem Sozialgesetzbuch IX (SGB IX).

Ein wichtiger Punkt ist ยงโ€ฏ164 Abs.โ€ฏ4 SGB IX. Arbeitgeber sind gesetzlich verpflichtet, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass die Betroffenen ihre Tรคtigkeit mรถglichst uneingeschrรคnkt ausfรผhren kรถnnen. Diese Vorgabe beeinflusst auch die Frage, wie mit Arztbesuchen wรคhrend der Arbeitszeit umzugehen ist.

Was bedeutet das konkret?

Bei Beschรคftigten mit Schwerbehinderung stehen medizinische Termine hรคufig in direktem Zusammenhang mit ihrer gesundheitlichen Beeintrรคchtigung โ€“ sei es zur Therapieerhaltung oder zur regelmรครŸigen Diagnosekontrolle. Arbeitgeber sind in solchen Fรคllen verpflichtet, eine individuelle Abwรคgung vorzunehmen.

Denn nicht selten ist es fรผr Betroffene unzumutbar, diese Termine auรŸerhalb der Arbeitszeit zu legen. Grรผnde dafรผr kรถnnen etwa sein, dass spezialisierte Fachรคrzte ihre Sprechstunden ausschlieรŸlich vormittags anbieten, eine lรคngere Anfahrt oder die Notwendigkeit einer Begleitperson erforderlich ist oder bestimmte Untersuchungen, etwa solche in nรผchternem Zustand, nur frรผhmorgens durchgefรผhrt werden kรถnnen.

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Kein pauschales Nein durch den Arbeitgeber erlaubt

Ein generelles Verbot, Arzttermine wรคhrend der Arbeitszeit wahrzunehmen, ist bei Schwerbehinderten hรคufig nicht mit ยงโ€ฏ164 SGB IX vereinbar. Laut mehreren arbeitsrechtlichen Kommentierungen wird die Unzumutbarkeit eines anderen Termins in solchen Fรคllen arbeitnehmerfreundlich ausgelegt.

Die Folge: Arbeitgeber dรผrfen eine Freistellung nicht ohne Einzelfallprรผfung verweigern. Auch wenn der Termin planbar ist, kann die Lohnfortzahlung gerechtfertigt sein โ€“ insbesondere dann, wenn der Arztbesuch als notwendig im Kontext der Behinderung steht.

Vertragsfreiheit mit Grenzen: Wenn der Arbeitsvertrag ยงโ€ฏ616 BGB ausschlieรŸt

Wichtig zu wissen: ยงโ€ฏ616 BGB ist nicht zwingend. Arbeitgeber kรถnnen im Arbeits- oder Tarifvertrag festlegen, dass Freistellungen unbezahlt erfolgen oder nur unter bestimmten Bedingungen.

Gerade deshalb sollten Arbeitnehmer mit Schwerbehinderung ihre Vertragsunterlagen sorgfรคltig prรผfen. Denn selbst wenn ยงโ€ฏ616 BGB ausgeschlossen ist, bleiben die Schutzpflichten nach dem SGB IX bestehen โ€“ sie kรถnnen vertraglich nicht einfach โ€žwegverhandeltโ€œ werden.

So sichern Sie Ihre Ansprรผche als schwerbehinderter Arbeitnehmer

Praxisbeispiel: Eine Arbeitnehmerin mit einer anerkannten Schwerbehinderung muss monatlich zur Tumornachsorge. Die Termine sind ausschlieรŸlich vormittags verfรผgbar. Ihr Arbeitgeber verlangt Urlaubstage. In diesem Fall kann sich die Arbeitnehmerin auf ยงโ€ฏ164 Abs. 4 SGB IX berufen โ€“ und auf eine bezahlte Freistellung pochen.

Folgende MaรŸnahmen helfen dabei, das eigene Recht durchzusetzen:

  • Arztbescheinigung einholen: Diese sollte den Terminzeitraum bestรคtigen, ohne Diagnosedetails zu enthalten. Idealerweise steht darin auch, dass ein anderer Termin nicht mรถglich war.
  • Frรผhzeitige Kommunikation: Informieren Sie den Arbeitgeber mรถglichst zeitnah.
  • Vertrag prรผfen: Klรคren Sie, ob der Anspruch auf Freistellung vertraglich ausgeschlossen wurde.
  • Interne Unterstรผtzung suchen: Die Schwerbehindertenvertretung (SBV) oder der Betriebsrat sind wichtige Anlaufstellen.
  • Rechtsberatung einholen: Bei Konflikten hilft eine rechtliche Beratung, etwa durch Gewerkschaften oder spezialisierte Kanzleien.

Weitere Schutzrechte fรผr Menschen mit Behinderung im Job

Arbeitnehmer mit Schwerbehinderung profitieren neben der Mรถglichkeit zur bezahlten Freistellung fรผr Arzttermine von weiteren besonderen Schutzrechten. So steht ihnen laut ยงโ€ฏ208 SGB IX in der Regel ein zusรคtzlicher bezahlter Urlaub von fรผnf Arbeitstagen pro Jahr zu.

AuรŸerdem kรถnnen sie gemรครŸ ยงโ€ฏ207 SGB IX verlangen, von Mehrarbeit freigestellt zu werden, was bedeutet, dass sie keine รœberstunden leisten mรผssen. Ein weiterer wichtiger Schutz besteht im Bereich des Kรผndigungsschutzes: Nach ยงโ€ฏ168 SGB IX darf eine Kรผndigung erst ausgesprochen werden, wenn das Integrationsamt zuvor zugestimmt hat.

Was tun bei Verweigerung durch den Arbeitgeber?

Stellt sich der Arbeitgeber quer, obwohl ein Anspruch besteht, sollten Betroffene nicht zรถgern. Zunรคchst ist ein Gesprรคch mit Verweis auf die rechtliche Grundlage sinnvoll. Kommt es zu keiner Einigung, ist die nรคchste Stufe der Gang zur SBV oder zum Betriebsrat.

Fรผhrt auch die Unterstรผtzung durch Betriebsrat oder Schwerbehindertenvertretung nicht zum Erfolg, sollte rechtlicher Beistand eingeschaltet werden. Ein klar formuliertes Schreiben vom Anwalt setzt den Arbeitgeber oft unter Druck und zeigt, dass Sie Ihre Ansprรผche notfalls gerichtlich durchsetzen werden.