Schwerbehinderung: Anspruch auf Merkzeichen G auch bei GdB unter 50 – Gericht entscheidet

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Ein Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg (Az.: L 13 SB 73/13) bestรคtigt, dass das Merkzeichen โ€žGโ€œ fรผr eine erhebliche Beeintrรคchtigung der Mobilitรคt auch bei einem Grad der Behinderung (GdB) unter 50 zugesprochen werden kann โ€“ sofern die funktionellen Einschrรคnkungen dies rechtfertigen. Die Entscheidung stรคrkt die Position vieler Antragsteller, deren Mobilitรคt trotz โ€žniedrigemโ€œ GdB erheblich eingeschrรคnkt ist.

Gericht hebt frรผhere Entscheidung auf

Im konkreten Fall hatte ein 1950 geborener Klรคger gegen die Ablehnung des Merkzeichens โ€žGโ€œ durch die zustรคndige Behรถrde geklagt. Die ursprรผngliche Entscheidung des Sozialgerichts Cottbus (Az.: S 17 SB 360/09) wies den Antrag mit der Begrรผndung ab, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen nicht erfรผllt seien. Insbesondere sei kein Einzel GdB von mindestens 50 allein aufgrund von Beeintrรคchtigungen an den unteren GliedmaรŸen oder der Wirbelsรคule nachgewiesen.

Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg widersprach dieser Argumentation. Es stellte klar, dass nicht der GdB-Wert allein entscheidend ist, sondern die tatsรคchliche Auswirkung der Erkrankung auf das Gehvermรถgen im รถffentlichen Raum. Der Klรคger erhielt rรผckwirkend ab dem 20. April 2010 das Merkzeichen โ€žGโ€œ zugesprochen.

Mobilitรคtseinschrรคnkung ist entscheidend โ€“ nicht der Gesamt GdB

Ausschlaggebend fรผr die gerichtliche Entscheidung war ein medizinisches Gutachten. Dieses belegte, dass der Klรคger aufgrund eines mehrfach operierten linken Knies, verbunden mit einer dauerhaften Gang- und Standunsicherheit, keine zwei Kilometer in einer halben Stunde mehr gehen konnte. Diese Wegstrecke gilt laut Rechtsprechung des Bundessozialgerichts als ortsรผblich und stellt den MaรŸstab fรผr die Bewertung der Mobilitรคt dar.

Zwar wurde dem Klรคger im Laufe des Verfahrens schlieรŸlich ein Gesamt GdB von 50 anerkannt. Doch bereits ab einem GdB von 40 lagen die funktionalen Einschrรคnkungen vor, die die Bewegungsfรคhigkeit im StraรŸenverkehr erheblich beeintrรคchtigten. Das Gericht stellte deshalb fest: Nicht der Gesamtgrad der Behinderung ist ausschlaggebend, sondern die konkrete Funktionsstรถrung โ€“ im Fall des Klรคgers eine instabile Kniegelenksituation, vergleichbar mit einer Teilversteifung.

Bedeutung fรผr Betroffene: Keine starre GdB-Schwelle mehr

Das Urteil hat weitreichende Auswirkungen. Menschen mit mehreren gesundheitlichen Beeintrรคchtigungen, die sich funktionell summieren, aber nicht zwingend einen Einzel GdB von 50 ergeben, haben trotzdem Chancen auf das Merkzeichen โ€žGโ€œ. Es ermรถglicht:

die kostenlose Nutzung รถffentlicher Verkehrsmittel (ยง 145 SGB IX),
die Reduktion der Kfz-Steuer um 50 Prozent (ยง 3a Abs. 2 KraftStG),
und ggf. die Befreiung von bestimmten Parkregelungen im StraรŸenverkehr.

Fรผr viele Menschen mit Mobilitรคtseinschrรคnkungen bedeutet das mehr Selbststรคndigkeit und gesellschaftliche Teilhabe โ€“ unabhรคngig davon, wie hoch der GdB formal ausfรคllt.

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Gericht setzt sich รผber starre Verwaltungslogik hinweg

Die Richter am LSG Berlin-Brandenburg betonten, dass eine rechtliche Einordnung nicht allein nach Paragrafen oder Tabellenwerten erfolgen darf. Stattdessen mรผsse das tatsรคchliche AusmaรŸ der Mobilitรคtsbeeintrรคchtigung bewertet werden. Damit wendet sich das Gericht gegen eine zu enge Auslegung der Versorgungsmedizinischen Grundsรคtze, wie sie von manchen Versorgungsรคmtern praktiziert wird.

Die Entscheidung steht im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, das bereits 1987 betont hatte, dass die โ€žortsรผbliche Wegstreckeโ€œ der zentrale MaรŸstab sei โ€“ unabhรคngig vom Alter oder Wohnort des Betroffenen (BSG, 9a RVs 11/87).

Praxisbeispiel: Kniegelenkerkrankung reicht aus

Der Klรคger litt unter einer komplizierten Kniegelenkerkrankung, inklusive mehrerer Operationen und Komplikationen wie Infektionen und Implantatwechsel. Dies fรผhrte zu einer dauerhaften Instabilitรคt des Gelenks und einer daraus resultierenden Gangunsicherheit. Der Sachverstรคndige bewertete diesen Zustand mit einem Einzel GdB von 40 โ€“ und ordnete ihn funktionell einer Teilversteifung gleich. Das Gericht folgte dieser Einschรคtzung und entschied zugunsten des Klรคgers.

Was bedeutet das Urteil fรผr Antragsteller?

Wer unter Mobilitรคtseinschrรคnkungen leidet โ€“ sei es durch Gelenkprobleme, neurologische Ausfรคlle oder chronische Schmerzen โ€“ kann das Merkzeichen โ€žGโ€œ auch dann beantragen, wenn kein GdB von 50 vorliegt. Entscheidend ist die Einschrรคnkung der Gehfรคhigkeit im รถffentlichen Raum. Wer unsicher ist, sollte:

  • sich von einem Facharzt eine funktionelle Bewertung der Mobilitรคt ausstellen lassen,
  • die Wegstrecken dokumentieren, die ohne Hilfsmittel oder Pausen nicht mehr zurรผckgelegt werden kรถnnen,
  • bei Ablehnung Widerspruch einlegen und ggf. Klage einreichen.

Rechtlicher Hintergrund zum Merkzeichen โ€žGโ€œ

Das Merkzeichen โ€žGโ€œ wird vergeben, wenn eine โ€žerhebliche Beeintrรคchtigung der Bewegungsfรคhigkeit im StraรŸenverkehrโ€œ vorliegt. Die gesetzliche Grundlage findet sich in ยง 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX. Entscheidend ist die sogenannte โ€ždoppelte Kausalitรคtโ€œ: Die Gehbehinderung muss durch die anerkannte Behinderung verursacht sein โ€“ und nicht etwa durch Alter, Trainingsmangel oder psychische Faktoren.