Kein Wohnraummehrbedarf für Alleinerziehende im Hartz IV-Bezug
Beitrag von Rechtsanwalt Helge Hildebrandt
14.03.2012
In der Rechtsprechung ist umstritten, ob alleinerziehenden Eltern im Sozialleistungsbezug (Hartz IV) ein Wohnraummehrbedarf entsprechend den jeweiligen landesrechtlichen Regelungen zum Wohngeld zusteht (dafür etwa LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27.07.2010, L 9 AS 1049/09 B ER, Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 12.08.2011, L 15 AS 173/11 B ER, Sozialgericht Lüneburg, Urteil vom 03.09.2009, S 28 AS 1576/08 mit umfangreichem weiteren Nachweis).
Verwaltungsvorschrift zu § 10 WoFG
In Schleswig-Holstein gelten nach den landesrechtlichen Durchführungsbestimmung zu § 10 WoFG folgende Quadratmeterzahlen: 1 Person bis 50 qm, 2 Personen 50 bis 60 qm, 3 Personen 60 bis 75 qm und ab dann pro Person 10 qm mehr. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass jede Person ein eigenes Zimmer haben sollte. Nach Nr. 8.5.5.1 VwV-SozWo 2004 SH ist ferner ein Wohnflächenmehrbedarf von einem Raum oder 10 qm grundsätzlich anzuerkennen u.a.bei Alleinerziehenden mit Kindern ab vollendetem 6. Lebensjahr.
Gründe für Wohnraummehrbedarf im Wohnraumförderungsrecht
In der Kommentarliteratur zu § 10 Abs. 1 Nr. 2 WoFG (Wohnungsgrößen) finden sich Hinweise zur Beantwortung der Frage, wann und warum ein Wohnraummehrbedarf zuzubilligen ist. Danach kann ein Wohnraummehrbedarf bei „besonderen persönlichen Bedürfnissen“ bestehen. Unter „besonderen persönliche Bedürfnisse“ werden – neben behinderungsbedingtem Wohnflächenmehrbedarf – alle Fallgestaltungen subsumiert, „in denen eine Wohnung, die nach der herkömmlichen Formel “pro Kopf ein Raum“ bemessen wird, nicht ausreicht, weil insbesondere ein gemeinsamer Schlafraum für mehrere Personen nicht zumutbar ist“ (Fischer-Dieskau, Pergande, Schwender, Wohnungsbaurecht, Kommentar, Band 1, 161. Erg.-Lfg., Nov. 2003, Anm. 5.2. zu § 10 WoFG [Seite 9]).
Als Beispiele werden in BT-Drucks 14/5538 zu § 10 Nr. 2 WoFG (Seite 48) genannt: Sehr hohe Kinderzahl, schwerwiegende Krankheits- und Pflegefälle, gesondertes Arbeitszimmer notwendig, zusätzlicher Raumbedarf von jungen Haushalten in der Familiengründungsphase.
Regelungen zum Inhalt Kommunaler Satzungen, § 22b SGB II
Auch in der amtlichen Begründung zu § 22b Abs. 3 SGB II n.F. (BT Drucks. 17/3404, S. 101 f) benennt der Gesetzgeber als weiteren Fall eines erhöhten Wohnraumbedarfes explizit alleinerziehende Eltern. Dort heißt es:
Die Vorschrift sieht vor, für bestimmte Personengruppen, die einen besonders abgesenkten oder erhöhten Bedarf für Unterkunft und Heizung haben, eine Sonderregelung für die Angemessenheit der Aufwendungen getroffen werden soll. Bei den betroffenen Personen kann der Wohnraumbedarf aus bestimmten Gründen typischerweise besonders hoch (zum Beispiel bei Bestehen einer Behinderung, die zu einem erhöhten Raumbedarf führt, oder bei Wahrnehmung des Umgangsrechts) oder besonders niedrig sein. Ein abgesenkter Bedarf kann zum Beispiel während der Berufsfindungsphase (siehe die in § 10 Absatz 3 des Bundesausbildungsförderungsgesetzes enthaltene Regelaltersgrenze) bestehen. Denkbar ist auch, dass aus anderen Gründen vorübergehend eine besonders kostspielige Unterbringung notwendig ist (zum Beispiel bei vorübergehendem Aufenthalt in einer stationären Suchtklinik oder einem Frauenhaus) oder der Bedarf aus allgemeinen sozialen Gründen vom typischen Bedarf abweicht (zum Beispiel bei Alleinerziehenden).
Auch die Begründung zu § 22b Abs. 3 SGB II n.F. stützt damit die Rechtsauffassung, wonach es gute Gründe gibt, Alleinerziehenden einen Wohnraummehrbedarf zuzubilligen.
Übertragbarkeit auf den Regelungsbereich SGB II
Nach hiesiger Auffassung können und sollten die Erkenntnisse aus dem Wohnraumförderungsrecht für den Regelungsbereich SGB II fruchtbar gemacht werden, denn die Lebens- und Wohnsituation von Menschen ändert sich nicht dadurch, dass sie die Sozialleistung Wohngeld oder die Sozialleistung ALG II in Anspruch nehmen müssen. Bei Alleinerziehenden folgt ein regelmäßig erhöhter Wohnflächenbedarf aus nachfolgender Überlegung:
Im Regelfall nutzen zusammenlebende Paare mit oder ohne Kinder einen Wohnraum als gemeinsames Schlafzimmer und einen weiteren Raum als gemeinsames „Wohnzimmer“ für das familiäre Zusammenleben und auch etwa für den Empfang von Besuch. Dies entspricht – jedenfalls noch – den üblichen Wohn- und Lebensformen in Deutschland. Eine Ausnahme mag allenfalls für studentische Wohngemeinschaften gelten. Hier geht also die Formel “pro Kopf ein Raum“ auf.
Alleinerziehende benötigen demgegenüber einen eigenen Schlafraum für sich und – jedenfalls ab einem gewissen Alter der Kinder – auch für jedes Kind. Darüber hinaus ist einer Familie grundsätzlich ein gemeinsamer Raum für die „Ausübung des familiären Zusammenlebens“ zuzubilligen. In diesem Zusammenhang hat etwa die 34. Kammer am SG Kiel zutreffend wie knapp konstatiert (Beschluss v. 08.02.2012, S 34 AS 34/12 ER): “Von dem (…) Wunsch, gleichzeitig für die Familie ein Wohnzimmer und für die Eltern einen eigenen Schlafraum vorhalten zu können, würde sich auch ein Nichtleistungsempfänger in jedem Fall leiten lassen.” Letzteres ist freilich eine Wertentscheidung, die sich auch anders treffen lässt. Im Interesse einer Einheit der Rechtsordnung wäre eine Abweichende Bewertung dann allerdings einheitlich für das Wohngeld sowie den Regelungsbereich SGB II und SGB XII zu treffen. Versuche, zwischen den Sozialleistungen rechtlich relevante Unterschiede zu konstruieren, überzeugen nicht.
In diesem Zusammenhang hat etwa das Sozialgericht Aachen in seinem Urteil vom 16.11.2005, S 11 AS 70/05, zutreffend ausgeführt:
“Jedoch führt die Ankoppelung des Begriffs der Angemessenheit iSd § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II an die im Wohnungsbindungsrecht für angemessen erachteten Wohnflächen auch dazu, dass der Leistungsträger nicht allein auf die dortigen tabellarischen Werte zurückzugreifen hat, sondern auch Ausnahmetatbestände dieses Rechtsgebietes zu berücksichtigten hat. Dies gilt jedenfalls dann, wenn das Wohnungsbindungsrecht solchen besonderen sozialen Situationen Rechnung trägt, die auch das Recht der Grundsicherung für Arbeitsuchende als berücksichtigungsfähig anerkennt. Ein solcher Fall ist insbesondere der (in § 21 Abs. 3 SGB II dem Grunde nach als berücksichtigungsfähig anerkannte) Mehrbedarf wegen Alleinerziehung, dem auf dem Gebiet des Wohnungsbindungsrechts Nr. 5.72 VV-WoBindG NW Rechnung trägt. Hiernach ist ein zusätzlicher Raum oder eine zusätzliche Wohnfläche von 15 qm wegen besonderer persönlicher oder beruflicher Bedürfnisse zB Alleinerziehenden mit Kindern ab dem vollendetem 6. Lebensjahr zuzubilligen. Dass die Klägerin alleinerziehend ist, ist zwischen den Beteiligten nicht streitig; der Beklagte hat in seinen Leistungsberechnungen einen Mehrbedarf wegen Alleinerziehung nach § 21 Abs. 3 SGB II anerkannt. Die beiden Kinder der Klägerin waren am 01.07.2005 11 und 13 Jahre alt. Dieser Ausnahmetatbestand, der nach dem Wohnungsbindungsrecht ein Abweichen von der Tabelle in Nr. 5.71 VV-WoBindG NW rechtfertigt, muss nach Auffassung der Kammer im vorliegenden Fall deswegen zur Anwendung kommen, weil sich die Wohnsituation eines alleinerziehenden Erwachsenen mit 2 Kindern anders darstellt als die eines Ehepaares mit einem Kind: Während letztere die 3 nach der Tabelle in Nr. 5.71 VV-WoBindG NW vorgesehenen Räume als jeweils ein Wohn-, Schlaf- und Kinderzimmer nutzen können, müßte ein alleinerziehender Erwachsener mit 2 Kindern entweder beide Kinder in einem Zimmer unterbringen oder aber auf das Wohnzimmer verzichten.”
Das SG Kiel in ähnlichem Zusammenhang so lapidar wie zutreffend konstatiert:
“Von dem aus den oben genannten Gründen anzuerkennenden erhöhten Platzbedarf für die Antragstellerin zu 3) und dem Wunsch, gleichzeitig für die Familie ein Wohnzimmer und für die Eltern einen eigenen Schlafraum vorhalten zu können, würde sich auch ein Nichtleistungsempfänger in jedem Fall leiten lassen.”
In den „Ersten Empfehlungen zu den Leistungen für Unterkunft und Heizung im SGB II (§ 22 SGB II)“ des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V. vom 08.07.2008 werden auf Seite 11 auch Alleinerziehende genannt.
SH LSG: Kein Wohnraummehrbedarf für Alleinerziehende
In einer aktuellen Entscheidung hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht einen Wohnraummehrbedarf für Alleinerziehende nun abgelehnt. Das Gericht hat aber, weil die Frage von grundsätzlicher Bedeutung und bisher höchstrichterlich noch nicht entschieden ist, die Revision zum Bundessozialgericht zugelassen.
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 6.12.2011, L 11 AS 97/10 – nicht rechtskräftig –
(Die entscheidenden Ausführungen zur Frage eines Wohnraummehrbedarfs Alleinerziehender finden sich auf den Seiten 22 bis 27.) Das Revisionsverfahren ist beim BSG unter dem Aktenzeichen B 14 AS 13/12 R anhängig. (Rechtsanwalt Helge Hildebrandt, Holtenauer Straße 154, 24105 Kiel, Artikel auf dem Blog)
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