Hartz IV Regelsatzklage: Eine echte Blamage

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Bundesverfassungsgericht: Schelte für die Bundesregierung für die Bemessung der Hartz IV Regelsätze

Man kann den ersten Tag, an dem sich das Bundesverfassungsgericht mit der Frage der Angemessenheit und Berechnung der Hartz IV Regelsätze beschäftigt, als eine große Blamage für die noch amtierende Bundesregierung bezeichnen. Das Bundesverfassungsgericht stellte bereits zum Anfang klar, anders als in vielen Mainstream Medien berichtet, geht es bei der aktuellen Verhandlung nicht nur um die Bemessung der Arbeitslosengeld II (ALG II) Regelsätze für Kinder, sondern auch um den der Erwachsenen. Die Hauptfragen sind; Ist der ALG II Regelsatz für Kinder und Erwachsenen bedarfsgerecht und ermöglicht dieser ein Menschenwürdiges Dasein? Und, wie gelangt die Bundesregierung zu einer solchen Bemessung?

Bereits das Hessische Landessozialgericht hatte das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil dazu aufgefordert, alle Hartz IV Regelleistungen, auch die für Erwachsene auf "Herz und Nieren" zu prüfen. Das Bundessozialgericht hatte in einem voran gegangen Verfahren die Regelsätze bereits als "Verfassungswidrig" beurteilt und das Verfahren an das Bundesverfassungsgericht weitergeleitet. Zwei ganze Jahre mussten nun die 3 Kläger warten, bis endlich das Hauptverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht eröffnet wurde.

Eigens für diese Verhandlung ist die Bundesregierung mit einer 28-köpfigen Deligation angereist. Doch wenn man nach Spitzenpolitiker der noch amtierenden Bundesregierung Ausschau hielt, war die Suche vergebens. Sollte bei einer solch wichtigen Verhandlung nicht auch der Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) anwesend sein? Oder fühlt sich der gelernte Jurist Scholz nicht mehr zuständig, weil er sein Amt in ein paar Tagen sowieso abgeben muss? Vertreten wurde Scholz durch den Staatssekretär Detlef Scheele. Ansonsten war die Deligation mit reichlich Beamten und Staatssekretären vertreten.

Es geht nicht nur um die Hartz IV-Regelsätze für Kinder, sondern auch um den für Erwachsene
Die Verfassungsrichter beschäftigten sich am Vormittag zunächst mit der Frage der Bemessung des ALG II Eckregelsatzes (359 Euro für einen Single, ohne Anrechnung einer Bedarfsgemeinschaft). Die Frage war, kann man den Hartz IV Regelsatz auf der Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes errechnen? Wurde die Übertragung der Werte korrekt durchgeführt und warum werden für Nahrungsmittel nur die Werte zu 96 Prozent anerkannt? So fragte dann der Vorsitzende Richter Vorsitzende Prof. Papier die Regierungsmannschaft, ob die berechneten Zahlen genau von den Berechnungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe übernommen wurden, oder ob die Zahlen "über den Daumen" geschätzt wurden. Doch eine konkrete Antwort konnte niemand so recht geben. Die Ministerialrätin des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales habe auch schon ihre Kollegen gefragt, "wie hoch man den Anteil schätzen würde?". Eine weitere Frage blamierte die 28-köpfige Mannschaft ebenfalls. Das Gericht fragte, warum die Anpassungen der ALG II Regelsätze immer im Zuge der Rentenanpassungen geschehen würde. Warum also nicht anhand der aktuellen Inflation (Preissteigerungen)? Die Antwort wirkte mehr als peinlich. Man habe sich aus zahlreichen Möglichkeiten eben für diese Art der Anpassung entschieden, weil dies auch der Lohnentwicklung entspricht.

Die Einkommens- und Verbraucherstichprobe unterteilt die Einkommensbezieher in 5 Gruppen und rechnet Menschen heraus, die Sozialleistungen beziehen. Für den Hartz IV-Regelsatz wurde die unteren 20 Prozent der Einkommensbezieher für eine angebliche Bedarfsdeckung herangezogen, wobei dann am tatsächlichen Ausgabeverhalten der schon „Hungerlohnbezieher“ nochmals Abstriche an den verschiedenen Verbrauchspositionen gemacht. Mit der Heranziehung der EVS wäre aber überhaupt nicht geklärt, ob denn bei den unteren 20 Prozent der Einkommensbezieher deren existenzsichernde Bedarf mit deren Einkommen überhaupt gedeckt sei, so beispielsweise die Position des Erwerbslosen Forums Deutschland.

Der Hartz IV Regelsatz für Erwachsene sei kein Problem
Die Präsidentin des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg Monika Paulat äußerte sich im zweiten Teil der Verhandlung zum Entsetzen der Vertreter der Bundesregierung völlig gegenteilig, als noch einige Tage und Wochen zuvor. Paulat war als Sachverständige von der Bundesregierung eingeladen und hatte bislang die Position vertreten, dass lediglich der Eckregelsatz für Kinder angepasst werden müsste. Eigens für die Verhandlung hatte sie eine Stellungnahme für das Bundesverfassungsgericht ausgearbeitet. Grundtenor war: "Der Regelsatz für Erwachsene sei kein Problem". Doch nun änderte Paulat ihre Meinung. Nach den genannten Argumenten der Bundesregierung im Verlauf der Verhandlung widerrief sie ihre eigene Stellungnahme. So wie der Eckregelsatz berechnet wird, gebe es dafür kaum hinreichende Grundlagen.

Nach diesen Worten musste nun der Anwalt der Bundesregierung, Prof. Rixen sichtlich betroffen weiter argumentieren. Im Jahre 2003 wäre die die Festlegungsmethode der Regelsätze "state of the art" (heißt: "höchsten verfügbaren Entwicklungszustand") gewesen. Aber Hartz IV sei eine "lernende Gesetzgebung". Aus diesem Grund habe man dann im Juli 2009 den Regelsatz für Kinder ab 6 Jahren erhöht. "Wie weit ist der Lernprozess denn fortgeschritten? Das ist ja immer noch nur ein bestimmter Prozentsatz," fragte der Vorsitzende Bundesverfassungsrichter Papier fast feststellend.

Höchst wahrscheinlicher Richterspruch: Die Hartz IV Regelsätze verstoßen gegen die Verfassung
Aufgrund der Stimmung und der guten Vorbereitung der Verfassungsrichter kann man davon ausgehen, dass die Bemessung der Regelsätze für Kinder, Jugendliche und Erwachsene als "Verfassungswidrig" erklärt werden. Doch die Höhe wird durch das Verfassungsgericht nicht festgelegt. Das Gericht stellt lediglich fest, ob die Bemessung Verfassungswidrig ist oder nicht. Wird ein solches Urteil gefällt, so wird die Bundesregierung damit beauftragt, die Regelsätze Verfassungskonform zu erarbeiten.

Sozialminister der Länder sind für höhere ALG II Kinderregelsätze

Erste Reaktionen aus den Länder-Sozialministerien zeigen deutlich, in welche Richtung das Verfahren gehen wird. So kündigte die bayerische Sozialministerin Christine Haderthauer (CSU) an, die Sozialministerkonferenz im November würde sich für höhere Hartz-IV-Regelsätze für Kinder aussprechen. Den genauen Bedarf müsse der künftige Bundessozialminister anhand der neuen Einkommens- und Verbraucherstudie ermitteln, so Haderthauer. Auch die stellvertretende SPD-Vorsitzende, Mecklenburg- Vorpommerns Sozialministerin Manuela Schwesig sieht die Regelsätze als zu niedrig bemessen an. Eine späte Einsicht, die wohl erst durch das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zu Stande kam. (sm,dl, Quellen: Spiegel, Prozessbeobachter, Erwin Denzler, Presse, 21.10.2009)

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