Aufruf: Keine Beschränkungen des Rechtswegs für arme und gering verdienende Bürgerinnen und Bürger!
Hamburg. Kaum eine gesetzliche sozialpolitische Regelung ist in den letzten Jahren so stark und kontrovers diskutiert worden wie das landläufig „Hartz IV“ genannte Sozialgesetzbuch II. Das SGB II mit dem Untertitel „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ stellt für gut sieben Millionen Menschen in Deutschland das existenzielle und finanzielle Auffangnetz dar. Leben auf Basis von Hartz IV heißt ein Leben in Armut in einer Gesellschaft, die von enormer sozialer Ungleichheit geprägt ist.
Hartz IV – Wenig Rechte, viele Pflichten, viele Klagen …
Eine wesentliche sozialpolitische Funktion von Hartz IV ist es, Menschen, die existenziell auf die Grundsicherung angewiesen sind, unter Druck zu setzen, irgendeine Arbeit anzunehmen. Die zuständige Behörde – in Hamburg die ARGE – ist gegenüber den Erwerbslosen oder NiedrigstverdienerInnen mit repressiver Sanktionsmacht ausgestattet und kann sie durch das Instrument der sog. Eingliederungsvereinbarungen, die Freiwilligkeit lediglich suggerieren, zu Maßnahmen oder in Arbeit (sgelegenheiten) zwingen. Oft genug sind diese nicht nur fachlich, sondern auch arbeitsmarktpolitisch in höchstem Maße fragwürdig und unvernünftig.
Aufgrund vielfach unzureichender Beratung und willkürlicher Zurückweisungen von Anträgen durch die ARGEN sind die Hürden für viele Erwerbslose, Leistungsansprüche geltend zu machen, bereits sehr hoch. Wegen der Häufigkeit kritikwürdiger und fehlerhafter Entscheidungen der ARGEN geht der wehrhafteste Teil der LeistungsbezieherInnen auch rechtlich gegen Bescheide, Maßnahmen und Sanktionen vor. Von der Antragsstellung bis zur Durchsetzung des Rechtswegs fechten viele einen langen Kampf aus. Widersprüche und Klagen im Rahmen von Hatz IV sind bemerkenswert erfolgreich: über 50 % der Klagen vor dem Sozialgericht kommen durch, und ca. 60 % der Widersprüche wird ganz oder teilweise stattgegeben.
Der Rechtsweg wird weiter eingeschränkt …
Die Konsequenz, die die Politik aus dieser offensichtlich legitimen Beanspruchung der Sozialgerichte zieht, ist allerdings perfide: Um Kosten zu sparen wurden und werden Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht, die den Rechtsweg der BezieherInnen von Sozialleistungen einschränken. Zur öffentlichen Begründung wird den erwerbslosen KlägerInnen typischerweise unverantwortliches und missbräuchliches Verhalten unterstellt.
– Seit ersten Januar 2009 ist die aufschiebende Wirkung von Widersprüchen gegen weitere Tatbestände im SGB II (gegen Meldeaufforderungen, Eingliederungsvereinbarungen, Zuweisungen in eine Maßnahme, ungerechtfertigte Kürzungen) abgeschafft. Dadurch werden viele Betroffene ungerechtfertigter Weise in finanzielle Notlagen gedrängt.
– Im Sozialgerichtsgesetz wurde 2008 der Mindeststreitwert für Berufungen von 500 € auf 750 € erhöht, was gerade arme BürgerInnen besonders betrifft. Viele Streitwerte, wie Babyausstattung oder Wohnkosten, liegen schließlich unter dieser Grenze. Im Bundesrat wurde ein Gesetzentwurf zur Begrenzung der Prozesskostenhilfe eingebacht, die für BürgerInnen mit geringem Einkommen bewilligt wird, wenn ihrer Klage vor Gericht Erfolgsaussichten eingeräumt werden. Nun soll die „Mutwilligkeit“ der Rechtsverfolgung auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten geprüft werden und die Stellungnahme des Prozessgegners größeres Gewicht bekommen.
– Im Sozialgerichtsverfahren und für Prozesskostenbeihilfen sind die Gebühren erhöht worden bzw. sollen erhöht werden.
Auch auf der untergesetzlichen Ebene der Verwaltungspraxis treibt das Versagen oder Unterschlagen von Rechtsansprüchen systemische Blüten. So hat die Bundesagentur für Arbeit ihre Mitarbeitenden im September 2008 aufgefordert, Menschen einzuladen, die ein Widerspruchsverfahren eingeleitet hatten, um sie zur Rücknahme des Widerspruchs zu bewegen – nicht zuletzt aus Wirtschaftlichkeitserwägungen. Ähnlichen Charakters war die Weisung der Hamburger ARGE im Jahr 2007 an ihre Mitarbeitenden, Hartz IV – EmpfängerInnen nicht aktiv über die Möglichkeit der Verbilligung von Monatskarten um 5 € zu informieren.
Widerspruch!
In Verkehrung der Verantwortlichkeiten wollen Politik und Verwaltung auf dem Rücken der von Hartz IV abhängigen BürgerInnen Gerichtskosten und Sozialleistungen einsparen. In einer gesellschaftlichen Situation, in der die Armut strukturell zunimmt, weisen soziale Diffamierungen und Missbrauchskampagnen, wie sie immer dann auftauchen, wenn öffentliche Leistungen gesenkt werden sollen oder Wahlen bevorstehen, Erwerbslosen und GeringverdienerInnen die individuelle Schuld dafür zu, dass sie der Allgemeinheit Kosten verursachen. Nicht so sehr die strukturellen Verhältnisse an sich werden als problematisch herausgestellt, sondern vielmehr das individuelle Verhalten Einzelner.
Demgegenüber muss klargestellt werden, dass der Anspruch auf Sozialleistungen auch ohne Gegen (arbeits)leistung zu den Grundrechten unserer Gesellschaft und zum Prinzip der Sozialstaatlichkeit gehört. Die Rechtsmittel, diesen Anspruch auch einklagen und sich gegen die Fehler und die oft beobachtete Willkür der Arbeitsverwaltung effektiv wehren zu können, dürfen gerade denen nicht genommen werden, die keinen Rechtsbeistand bezahlen können. Mit den beschriebenen Regelungen tragen die politisch Verantwortlichen gezielt zum Abbau sozialer Schutzrechte und zur Verstärkung gesellschaftlicher Schieflagen bei.
Angesichts dieser Bedrohung für einen nicht geringen Teil der Bürgerinnen und Bürger fordern die Unterzeichnenden dieser Erklärung die Rücknahme der Gesetzesänderungen und geplanten Regelungen zur Beschränkung des Rechtswegs. Die Hamburgische Bürgerschaft und der Hamburger Senat werden hiermit aufgefordert, in diesem Sinne auf die Bundespolitik einzuwirken. Die Bundesagentur für Arbeit, die Freie Hansestadt Hamburg und die team.arbeit.hamburg haben in ihrer Verwaltungspraxis die Rechtsposition von LeistungsbezieherInnen zu achten.
Dafür allerdings bietet das SGB II eine schlechte Grundlage. Hartz IV und seine Instrumente sind geprägt und durchdrungen vom repressiven Geist, einem negativen Menschenbild und dem stigmatisierenden Generalverdacht gegen Erwerbslose. Notwendig sind daher mehr denn je gesetzliche Reformen zur Verteidigung sozialer Grundrechte.
Unterzeichnende:
ADEBAR ▪ Akademiker Initiative Hamburg e.V. ▪ Ambulante Hilfe Hamburg e.V., Beratungsstelle Altona ▪ Die Gruppe e.V. ▪ Gemeinwesendiakonie des Kirchenkreises Hamburg-Ost ▪ GEW – Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Landesverband Hamburg ▪ Hinz&Kunzt ▪ Hude ▪ Jugendberatung Bodelschwingh ▪ KiFaZ Großlohe ▪ Mieter helfen Mietern e.V. ▪ Retter-Rat des Stadtteilprojekts Sonnenland e.V.▪ Solidarische Psychosoziale Hilfe e.V. ▪ Sozialpolitische Opposition Hamburg e.V. ▪ Streetlife e.V.▪ Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen, Regionalgruppe Hamburg ▪ verikom e.V. (25.05.2009)
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