Pflegegrad abgelehnt: 9 von 10 Betroffenen wählen den falschen Weg

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Viele Pflegebedürftige (oder ihre Angehörigen) kennen die Frustration: Der Alltag ist geprägt von Schmerzen, eingeschränkter Beweglichkeit oder kognitiven Einbußen – doch das Gutachten des Sozial bzw. Medizinischen Dienstes (SMD/MD) spiegelt diesen Zustand nicht wider. Die Pflegekasse lehnt deshalb die Höherstufung ab. Der Drang ist groß, das „falsche“ Gutachten selbst anzufechten. Genau das tat ein Versicherter aus Gelsenkirchen.

Was im Verfahren passierte

Seit 2018 war der Kläger mit Pflegegrad 1 eingestuft. Am 2. März 2022 beantragte er eine Höherstufung, wurde jedoch bei zwei Hausbesuchen des Medizinischen Dienstes im September 2022 und Februar 2023 nur mit insgesamt 21,25 Punkten bewertet, was weiterhin Pflegegrad 1 bedeutete.

Daraufhin erließ die Pflegekasse am 6. Oktober 2022 einen Ablehnungsbescheid, den sie nach Widerspruch am 11. Juli 2023 bestätigte. Anstatt diesen Bescheid gerichtlich anzufechten, wandte sich der Mann ausschließlich gegen das Gutachten – und verlor.

1. Instanz: Sozialgericht Gelsenkirchen (Gerichtsbescheid 11. 10. 2023)
2. Instanz: LSG NRW (Urteil 05. 06. 2025, Az. L 5 P 139/23)

Das Gericht sah die Klage als unzulässig an, weil ein Gutachten kein Verwaltungsakt ist. Kurz gesagt: Ohne Verwaltungsakt gibt es nichts, was ein Gericht „aufheben“ könnte.

Juristische Kernaussage – verständlich erklärt

Ein Bescheid stellt als Verwaltungsakt eine hoheitliche Entscheidung mit unmittelbarer Außenwirkung dar, während ein Gutachten lediglich eine interne Entscheidungshilfe der Pflegekasse bleibt. Daraus folgt nach § 54 SGG, dass allein der Bescheid angefochten werden kann; wer sich stattdessen nur gegen das Gutachten wendet, verfehlt sein Ziel.

Ein solcher Fehlgriff hat gravierende Konsequenzen: Die Klage wird kostenpflichtig abgewiesen, eine Kostenerstattung erfolgt selbst im Berufungsverfahren nicht, und weil die Revision nicht zugelassen wird, ist der Rechtsweg an dieser Stelle endgültig ausgeschöpft.

Was bedeutet das für Sie?

Falscher Weg Richtiger Weg
Klage direkt gegen das Gutachten einreichen (Zeit- & Kostenfalle)
Fristgerecht Widerspruch gegen den Bescheid der Pflegekasse einlegen (innerhalb von einem Monat)
Hoffen, dass das Gutachten verschwindet
Sachargumente bündeln: Pflegetagebuch, Arztberichte, Pflegeprotokolle
Vor Gericht erst merken, dass der Klagegegenstand unzulässig ist
Bei Ablehnung des Widerspruchs: Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gegen den Bescheid (§ 54 Abs. 1 SGG)
Risiko selbst tragen; Prozesskostenhilfe meist abgelehnt, weil Aussicht auf Erfolg fehlt
Prozesskostenhilfe beantragen – höhere Chance, wenn Bescheid angegriffen wird

Schritt-für-Schritt-Leitfaden zur richtigen Vorgehensweise

  1. Ablehnungsbescheid genau prüfen
    Frist läuft ab Zustellung! Notieren Sie das Datum auf dem Umschlag.
  2. Kostenlose Beratung in Anspruch nehmen
    Pflegestützpunkte (§ 7c SGB XI)
    Unabhängige Patientenberatung (UPD)
    Sozialverbände (VdK, SoVD)
  3. Widerspruch einlegen
    Mustervorlagen finden Sie auf gegenhartz.de. Legen Sie alle Dokumente bei, die den höheren Hilfebedarf belegen: Fotos, Pflegetagebuch, ärztliche Schreiben, ggf. Stellungnahmen von Therapeuten.
  4. Neue Begutachtung verlangen
    Im Widerspruch dürfen Sie auf Fehler im Gutachten hinweisen (z.B. verkürzte Besuchsdauer, Ignorieren kognitiver Einschränkungen). Fordern Sie eine erneute Begutachtung, am besten im Beisein einer Vertrauensperson.
  5. Klage gegen den neuen Bescheid
    Bleibt die Pflegekasse stur, folgt die Klage zum Sozialgericht. Jetzt klagen Sie gegen den Widerspruchsbescheid, nicht gegen das Gutachten.
  6. Prozesskostenhilfe nutzen
    Wer Bürgergeld, Grundsicherung oder niedrige Rente bezieht, kann PKH beantragen. Entscheidendes Kriterium ist die Erfolgsaussicht – die ist bei korrektem Klagegegenstand deutlich höher.

Häufige Fehler und wie man sie vermeidet

Viele Betroffene fürchten, sie hätten nach einem ablehnenden Pflegebescheid nur zehn Tage Zeit zum Handeln – dabei beträgt die Widerspruchsfrist tatsächlich einen Monat ab Bekanntgabe (§ 84 SGB X). Ebenso verbreitet ist die Annahme, man müsse sofort einen Anwalt einschalten.

Beratung ja, aber eine kostspielige Vollmacht ohne bewilligte Prozesskostenhilfe ist unnötig; zunächst sollten kostenlose Anlaufstellen wie Pflegestützpunkte oder Sozialverbände genutzt werden.

Ein weiterer Kardinalfehler ist das fehlende Beweismaterial: Wer kein Pflegetagebuch führt, dem fehlen harte Fakten – deshalb täglich die Minuten der pflegerischen Unterstützung notieren. Schließlich reicht es meist nicht, lediglich Nachbarn als Zeugen zu benennen; deutlich überzeugender sind professionelle Stellungnahmen von Hausarzt, Pflegedienst oder Therapeuten.

Besonderheiten für Bürgergeld-Bezieher

Ein höherer Pflegegrad verschafft zusätzliche Geld- oder Sachleistungen aus der Pflegeversicherung und entlastet damit zugleich das knappe Bürgergeld-Budget. Zugleich sind Leistungsbezieher verpflichtet, alle Ansprüche gegenüber der Pflegekasse auszuschöpfen (§ 12a SGB II).

Wer aus Unkenntnis den falschen Klageweg wählt, riskiert daher nicht nur eine erneute Ablehnung, sondern kann sich im Nachhinein auch Ärger mit dem Jobcenter einhandeln – Stichwort „Sozialleistungs-Subsidiarität“.

Experten-Tipp: Parallelverfahren clever steuern

Der Kläger aus dem Urteil führte tatsächlich zwei Verfahren:

  1. L 5 P 139/23 – erfolglose Klage gegen Gutachten
  2. L 5 P 121/24 – Anfechtungsklage gegen Bescheid (Stand unbekannt)

Nutzen Sie diese Lektion: Konzentrieren Sie Ihre Energie auf das sachlich richtige Verfahren. Ein Doppelverfahren verzettelt Ressourcen und schwächt Ihre Position.