Das ist ein Novum: “Das Sozialgericht Karlsruhe bereut zutiefst seinen im Fall der Klägerinnen einstweilen verfassungswidrigen Irrweg, sein unverzeihliches Versagen” und erklärt damit den Entzug des Regelsatzes einer Bürgergeld-Berechtigten für absolut rechtswidrig.
Dabei scheute sich das Gericht auch nicht, einen Rundumschlag von anderen Sozialgerichten und dem Jobcenter zu unternehmen.
Im konkreten Fall hatte eine Betroffene und ihre Tochter gegen die Totalentziehung von Bürgergeld- Leistungen geklagt.
Was war passiert?
Die Betroffene und ihre Tochter leben vom Kindsvater getrennt in einer 62 Quadratmeter großen Wohnung mit Kosten für Unterkunft und Heizung in Höhe von insgesamt 460 Euro.
Für November 2021 bis Oktober 2022 bekamen sie vom zuständigen Jobcenter Bürgergeld bewilligt. Dabei erkannte das Jobcenter vollständig die Kosten der Unterkunft an und berücksichtigte das monatliche Kindergeld als anspruchsmindernd.
Als Leistungsanspruch blieben für die Klägerin für Regel- und Mehrbedarf als Alleinerziehende 610,64 Euro.
“Unterhalt in bar”
Die Klägerin informierte das Jobcenter im Januar 2022, dass sie den Unterhalt für ihr Kind in bar erhalte. Sie legte Kontoauszüge für einen Monat und mit Schwärzungen vor, um ihre wirtschaftlichen Verhältnisse zu zeigen.
Geschwärzt war der Kontostand am Beginn und Ende des Zeitraums. Das Jobcenter forderte jetzt aussagekräftigere Kontoauszüge und das Vorlegen eines ausgefüllten Formulars für Leistunsgberechtigte mit Unterhaltsbezug (Anlage “UH”).
Entzug der Leistungen
Auf Erinnerungen und Belehrungen des Jobcenters dazu, erfolgte keine Reaktion. Das Jobcenter entzog Mutter und Tochter daraufhin mit Entziehungsbescheid vom 03.05.2022 die Leistungen vom 01.04.2022 bis zum 31.10.2022, und dies zum Teil rückwirkend, also Gesamtleistungen von jeweils 5.884,48 Euro sowie 672 Euro.
Begründet wurde dies mit der Nichtvorlage der angeforderten Unterlagen, der so nicht eingehaltenen Pflicht zur Mitwirkung und Verweis auf den Paragrafen 66 im ersten Buch des SGB I. Das Jobcenter berief sich dabei auf die Ermessensausübung.
Widerspruch nur teilweise angenommen
Die Betroffene legte Widerspruch ein. Diesem gab das Jobcenter nur teilweise statt und hob lediglich die rückwirkenden Entziehungen der Leistungen auf, blieb aber bei dem Entzug der laufenden Leistungen.
Sozialgericht lehnt Eilantrag ab
Das Sozialgericht Karlsruhe lehnte einen Eilantrag der Betroffenen ab, mit der Begründung, dass die Entziehung der Leistung im Ermessen der Behörde stünde. Konkrete Umstände, die eine umfassendere Abwägung erfordert hätten, hätte die Betroffene nicht genannt, und sie seien auch nicht ersichtlich.
Im Hauptverfahren bekommt die Betroffene Recht
Als es dann jedoch ins Hauptverfahren ging, gab das Sozialgericht der Betroffenen umfassend Recht. Anlass, das Ermessen nach Paragrafen 66, Abs.1, SGB I auszuüben, hätte eine Behörde nur, wenn (zum Beispiel durch fehlende Mitwirkung) die Voraussetzungen des Leistungsanspruchs noch nicht nachgewiesen seien.
Rundumschlag gegen gängige Rechtsprechung
Das Sozialgericht Karlsruhe formulierte dann einen Rundumschlag gegen verschiedene Sozialgerichte, nämlich “das bewusstes Abweichen der Gegenansicht von allgemein anerkannten rechtswissenschaftlichen Kategorien und Erkenntnissen.”
Es handlle sich dabei um Etikettenschwindel: “Mithilfe dieses juristischen Etikettenschwindels legitimieren das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht und das Landessozialgericht Sachsen-Anhalt nur zum Schein seit Jahren bundesweit eine Vielzahl von Sozialgerichten und Jobcentern, § 66 Abs. 1 SGB I massenhaft so anzuwenden, als erstreckte sich das behördliche Ermessen im Grundsicherungsrecht nicht auch auf den Umfang von Entziehungen und Versagungen.”
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Ermessen ist eingeschränkt
Im Gegensatz zu dieser “Schwurbelei” (wörtlich), sei “das behördliche Auswahlermessen in § 66 Abs. 1 SGB I im Grundsicherungsrecht sogar aus verfassungskräftigen Erwägungen in umgekehrter Richtung regelmäßig zugunsten der Menschen im Bezug existenzsichernder Leistungen eingeschränkt.”
Ein Entziehen der Grundsicherung dürfe ohne ein vorheriges Angebot zu einer mündlichen Anhörung nicht mehr als 30 Prozent des Regelbedarfs umfassen. Wörtlich heißt es: “Dies folgt aus der grundrechtlichen Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.”
Der Einzelfall ist entscheidend
Größere Kürzungen von existenzsichernden Leistungen müssen im Einzelfall geprüft werden, so das Sozialgericht Karlsruhe: “Die Verhältnismäßigkeit weitreichender oder sogar totaler Entziehungen bzw. Versagungen zum Zwecke der Durchsetzung der Mitwirkung in der existenzsichernden Leistungsverwaltung kann nicht losgelöst vom Einzelfall für eine Vielzahl von Betroffenen angenommen werden.”
Wissenschaftliche Studien zur Wirkung fehlen
Hinreichende empirische Untersuchungen und wissenschaftliche Auswertungen zur Wirkung von weitreichenden Sanktionen seien unterlassen worden.
Gerichtliche und behördliche Entscheider dürften sich “nicht auf individuelle gepflegte und kollektiv kolportierte Vorurteile verlassen. Sie müssen stattdessen hilfsweise verfügbare Erkenntnisse zugrunde legen, soweit sie wesensverwandte Fragestellungen betreffen.”
Laut dem Bundesverfassungsgericht genüge bei Leistungsminderungen um mehr als 30 Prozent des Regelbedarfs nicht die allgemeine Annahme, dass diese ihre Zwecke erreichen, um eine solche Härte zu begründen, mit der die Mitwirkungspflicht durchgesetzt werden soll. Denn die Belastung der Betroffenen sei gravierend.
Als negative Folgen hätte das Verfassungsgericht genannt: “Wohnungslosigkeit, die Gefahr der Dequalifizierung, verstärkte Verschuldung, eingeschränkte Ernährung, unzureichende Gesundheitsversorgung, sozialen Rückzug sowie seelische Probleme bei erwerbsfähigen Leistungsberechtigten.”
Vielfältige Gründe zu fehlender Mitwirkung
Das Sozialgericht verwies darauf, dass es vielfältige Gründe gebe, warum Leistungsberechtigte Mitwirkungsanforderungen nicht erfüllten, subjektiv oder objektiv nicht erfüllen könnten.
Oft gebe es Kompetenzdefizite, die nichts mit mangelnder Eigenverantwortung oder Arbeitsbereitschaft zu tun hätten. Dann käme es zu Kommunikationsstörungen zwischen Hilfebedürftigen und Behörden. Überzogene Anspruchshaltungen kämen ebenso zum Tragen wie der Eindruck behördlicher Willkür.
Gerade psychisch stark belastete Menschen hätten Probleme mitzuwirken, und jeder dritte Mensch im Bürgergeld-Bezug hätte eine ärztlich festgestellte psychiatrische Diagnose.
Sanktionen sind schädlich
Sanktionen könnten psychische Probleme verschlimmern, zur sozialen Isolation und in die Verschuldung führen.
“Nach einer Leistungsminderung erhöhe sich die Wahrscheinlichkeit, das Sozialsystem nicht in Erwerbsarbeit zu verlassen, sondern den Kontakt zum Jobcenter abzubrechen und dann ohne dessen Unterstützung zu leben.”
Scharfe Kritik an der Praxis des Jobcenters
Das Sozialgericht kritisierte das Jobcenter hart. Bevor Leistungen entzögen würden, müssten die Betroffenen die Möglichkeit haben, sowohl schriftlich wie auch mündlich Stellung zu nehmen.
Bei Sanktionen über 30 Prozent des Regelsatzes müsste das Jobcenter genau erklären, warum gerade dieser Fall derart atypisch sei, dass er eine solche Schärfe rechtfertige.
Trotz Alternativen hätte das Jobcenter die maximal härteste Möglichkeit gewählt. Eine hinreichende Auseinandersetzung sei hingegen von Seiten der Behörde nicht zu erkennen.
Dass das Jobcenter einen totalen Entzug der Leistungen als “sanfte Druckausübung” bezeichne, sei evident unrichtig. Der ironisch-paternalistische Unterton darin sei dem Grundgesetz völlig fremd.
Gegenüber einer derart sprachausfälligen Behördenvertertreterin sei die Sorge wegen deren Befangenheit begründet.
Eine geforderte Mitwirkung der 2019 geborenen Tochter bei der Vorlage der Kontoauszüge sei unmöglich, und die Möglichkeit zur Selbsthilfe der Betroffenen sei ins Blaue formuliert.
Das Jobcenter sei seiner Pflicht nicht nachgekommen, für eine Ermessensentscheidung die Einzelfallumstände zu ermitteln.
Mündliche Anhörung war notwendig
Die mündliche Anhörung wäre notwendig gewesen, “weil es sich bei der Klägerin um eine alleinerziehende Mutter eines dreijährigen Kindes in prekären Lebensverhältnissen handelte, die den Namen des unterhaltspflichtigen Kindesvaters aus unbekannten Gründen im schriftlichen Verfahren nicht preisgeben konnte oder wollte.”
Möglicherweise positive Umstände für die Betroffene
Eine mündliche Anhörung hätte möglicherweise zu positiven Umständen für die Betroffene führen können, welche den Mangel an geforderter Mitwirkung erklären würden. Es seien “objektiv-grundrechtlich geschützte Motive denkbar”, die gegen eine sofortige und vorbehaltlose Mitwirkung sprächen.
Diese Pflicht zur mündlichen Anhörung hätte das Jobcenter nicht erfüllt.
Sogar, wenn es es keinen zwingenden Grund zur Geheimhaltung gegeben hätte, bestünde die Möglichkeit, dass die Betroffene “in der sehr fordernden sozialen Rolle als arbeits- und mittellose Mutter einer dreijährigen Tochter aus ihrer subjektiven Sicht ggfs. sehr wohl nur eingeschränkt in der geforderten Weise mitwirken könnte”. Auch dann hätten keine Leistungen entzogen werden dürfen.
“Jobcenter verstößt gegen Grundwerte der freiheitlichen Demokratie”
Das Gericht stellt grundsätzlich infrage, ob die Handelnden in diesem Jobcenter auf dem Boden des bürgerlich-demokratischen Rechtsstaats stehen: “Der (…) fatalen behördlichen Ermessensausübung haftet der Nachgeschmack eines von Klassismus triefenden, autoritär-gönnerhaften Selbstverständnisses ebenso an wie deren gerichtlicher Prüfung im erfolglosen Eilrechtsschutzverfahren.”
Sozialgerichte und Sozialgerichte unserer freiheitlich-demokratischen Republik dürften sich jedoch nicht so begreifen im Verhältnis zu den wirtschaftlich schwächsten Bürgern unserer Republik.
Das Jobcenter muss zahlen
Der totale Entzug der Leistungen halte in diesem Fall diesen Kriterien nicht stand. Das Sozialgericht verpflichtet das Jobcenter dazu, die entzogenen Leistungen an die Betroffenen voll auszuzahlen. (SG Karlsruhe, Az: S 12 AS 2046/22).
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Dr. Utz Anhalt ist Buchautor, Publizist, Sozialrechtsexperte und Historiker. 2000 schloss er ein Magister Artium (M.A.) in Geschichte und Politik an der Universität Hannover ab. Seine Schwerpunkte liegen im Sozialrecht und Sozialpolitik. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Dokumentationen für ZDF , History Channel, Pro7, NTV, MTV, Sat1.