Jobcenter verschlimmern Situation von Erwerbslosen
Dirk Kratz, Sozialpรคdagoge an der Universitรคt Hildesheim, hat im Rahmen seiner Doktorarbeit โEntfremdete Hilfeโ untersucht, welche Hilfen fรผr Langzeiterwerbslose sinnvoll sind oder welche nicht. Sein Fazit: Die standardisierte Fallbearbeitung im Jobcenter fรผhrt dazu, dass sich die Situation der Betroffenen hรคufig sogar noch verschlechtert. Durch Bevormundungen und erzieherische Maรnahmen wie Sanktionen wolle man den Erwerbslosen zu einem arbeitsmarktkonformen Verhalten zwingen, erlรคutert Kratz im Interview mit โZeit onlineโ. Letztlich fรผhre diese Art der Erwerbslosenbetreuung aber meist zu einem Verlust des Selbstwertgefรผhls des Betroffenen und verringere letztlich seine Chancen auf eine neue Stelle.
Arbeit des Jobcenters ist kontraproduktiv
Der Sozialpรคdagoge untersuchte, welche Hilfen fรผr Langzeiterwerbslose sinnvoll sind, um wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuร zu fassen. Zudem analysierte er die aktuelle Vermittlungspraxis in den Arbeitsagenturen und Jobcentern. Dabei kam Kratz zu dem Ergebnis, dass das รผbliche Vorgehen bei der Arbeitsvermittlung weit von dem abweicht, was Erwerbslose benรถtigen. โSo wie die Hilfe derzeit angelegt ist, richten die Jobcenter groรen Schaden an. Sie machen mehr kaputt, als dass sie helfen. Das ist ein ganz zentrales Ergebnis meiner Arbeitโ, berichtet Kratz gegenรผber der Online-Redaktion der โZeitโ. Eines der wesentlichen Probleme bestehe in der Entwertung der bisherigen Berufsbiographie der Erwerbslosen durch das Jobcenter. Die berufliche Erfahrung werde als Defizit angesehen, das behoben werden mรผsse. Es sei aber viel sinnvoller, die Erfahrung als Basis anzusehen, um daraus etwas Neues zu entwickeln, erlรคutert der Sozialpรคdagoge weiter.
Die Jobcenter und Arbeitsagenturen wรผrden grundsรคtzlich davon ausgehen, dass ein Mangel an bestimmten Fรคhigkeiten Ursache der Erwerbslosigkeit sei. Deshalb wรผrden Betroffene in hรคufig unpassende Maรnahmen gesteckt. Kratz berichtet in diesem Zusammenhang von Rechtschreibkursen und รคhnlichem, bei denen entsprechende Defizite von vornherein unterstellt werden. Da die Qualifizierungsmaรnahmen der Jobcenter aber hรคufig nicht funktionierten und die Erwerbslosen dennoch keinen Job fรคnden, fรผhrten sie letztlich zur weiteren Entfremdung vom Arbeitsmarkt. โIhre Berufserfahrung veraltet, ihr Selbstbewusstsein leidet. Sie finden noch schwerer einen Jobโ, erlรคutert Kratz.
Fรคhigkeiten und Wรผnsche der Erwerbslosen mรผssten stรคrker Berรผcksichtigt werden
Die Arbeitsvermittlung versucht zwar, Erwerbslose zu qualifizieren und auf diese Weise wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren, aber der Weg dorthin ist falsch. Nicht der Erwerbslose mรผsse sich an irgendeine, womรถglich fachfremde Stelle anpassen, die weder seinen Fรคhigkeiten noch seinen Wรผnschen entspricht, sondern es mรผsse eine Stelle gefunden werden, die zum Erwerbslosen passe, fordert der Sozialpรคdagoge. Nur so kรถnne der Betroffene einen Bezug zu seiner Arbeit herstellen und sich dabei wohl fรผhlen. Das sei viel nachhaltiger. Derzeit wรผrde aber allein das Jobcenter entscheiden, was als Defizit und was als Kompetenz angesehen werde. Der Erwerbslose selbst habe kein Mitspracherecht. โEs entsteht eine groรe Orientierungslosigkeit. Durch die vielen erfolglosen Versuche, wieder zurรผck in den Arbeitsmarkt zu kommen, fรผhlt man sich gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert,โ berichtet Kratz. โDabei wรผnschen sich alle Leute, mit denen ich geredet habe, eine sinnvolle, erfรผllende Tรคtigkeit.โ
Kratz fordert mehr Mitspracherecht und Freirรคume fรผr die Erwerbslosen. Es sei wenig sinnvoll, sich ausschlieรlich am Markt zu orientieren. Stattdessen mรผsse viel stรคrker auf die Erwerbslosen eingegangen werden. Das fรผhre letztlich zu einer stabileren Erwerbsgesellschaft. (ag)
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