Hartz IV Regelsatzaufweichung durch Bundesgericht

Lesedauer 3 Minuten

Nach 38%igem Hartz IV-Klageflut-Anstieg sieht Arbeitslosen-Initiative dringenden Handlungsbedarf in den Behörden

„Es ist kein Wunder“, stellt Hartz4-Plattform-Sprecherin Brigitte Vallenthin fest, „dass die Klageflut in Sachen Hartz IV im dritten Jahr nach Hartz abermals um 38 % angestiegen ist. Die Dramatik der Situation für Betroffene wird dadurch deutlich, dass die Zahl derer, die sich bis zum Bundessozialgericht (BSG) durch streiten müssen, sogar um 75% angestiegen ist. Wir wundern uns lediglich darüber, wie wenig sich die Behörden offenbar zur Befolgung selbst von „unanfechtbaren“ Richtersprüchen verpflichtet zu fühlen scheinen.“ Nach Erkenntnissen der Wiesbadener Arbeitsloseninitiative könnten die Behörden den Sozialgerichten viel Arbeit ersparen, wenn sie nicht fortgesetzt gegen Sozialgerichtsurteile, Sozialgesetz und Grundgesetz verstießen.

Zwei Beispiele machen das anschaulich:

Laut „unanfechtbarem“ Urteil des Hessischen Landessozialgerichts (HLSG) vom 22/08/05 (Az: L 7 AS 32/05 ER) wird die Behördenpraxis, bei der Hartz IV-Antragstellung Kontoauszüge für die zurückliegenden drei Monate – einige Behörden in Deutschland verlangen sogar 6 bis 7 Monate – vorzulegen und bei Nicht-Befolgung die Sozialleistung zu verweigern als unzulässig zurück gewiesen. Die Landessozialrichter begründen ihr Urteil folgendermaßen: Die „Weigerung, die Kontoauszüge der zurückliegenden Monate (…) vorzulegen, ist unschädlich, denn (…) diese Urkunden“ sind „weder „leistungserheblich“ noch „erforderlich“ im Sinne des § 60 Abs. 1 Nr. 1 SGB I.“

„Es steht aber nicht im Belieben der Verwaltung, Umfang und Reichweite der Mitwirkungspflichten von Antragstellern ohne konkrete rechtliche Grundlage festzulegen und bei deren Nichterfüllung sogar die Sanktion der Leistungsversagung zu verhängen.“
Das Gericht stellt weiter fest, dass „Sozialdaten (…) nicht unbefugt erhoben werden dürfen.“ Es bezieht sich dabei auf das „aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Grundgesetzes, Art. 2 Abs. 1 GG und der Menschenwürde, Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitete Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung“. Dennoch fordert die Wiesbadener Behörde weiterhin in ihrem Formblatt für die leistungserforderlichen Dokumenten-Nachweise zur Kontoauszugsvorlage auf.

Mit ebenfalls „unanfechtbarem“ Urteil untersagte das HLSG am 31. Januar 2006 (AZ: L 7 AS 1/06 ER) die Behördenpraxis von so genannten „Hausbesuchen“ als Sozialleistungsvoraussetzung. Das Urteil wurde folgendermaßen begründet: „Die Ablehnung der Leistung kann nicht, wie es im Schreiben“ des Amtes für Soziale Arbeit Wiesbaden „zum Ausdruck kommt, darauf gestützt werden, dass grundsätzlich bei allen Bürgern, die einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II stellten, ein Hausbesuch durchzuführen sei, um klären zu können, ob deren Angaben aus dem Antrag korrekt seien. Vor allem reicht nicht als pauschale Begründung (…) aus, (…) man wolle Betrugsfälle verhindern.“ Es „ist festzustellen, dass weder das SGB II noch das (…) SGB X (…) Hausbesuche direkt vorsehen.“ Das Gericht beruft sich außerdem auf die „verfassungsrechtliche Bedeutung der Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Grundgesetz).“

Gleichwohl erhalten Antragsteller von Sachbearbeitern der Wiesbadener Behörde weiterhin sinngemäß die Auskunft: Wir kennen das Urteil – unsere internen Richtlinien lauten jedoch anders. Wir machen weiterhin Hausbesuche bei jedem Antragsteller. Nach Betroffenen-Berichten werden diese häufig durch aggressives Sturm-Klingeln in große Angst versetzt; teilweise soll sogar mit Polizeieinsatz gedroht worden sein. Selbst bei der Klägerin des o.g. Urteils versucht die Behörde nach einem Umzug abermals einen Hausbesuch durch die Hintertür zu erwirken, weil sie nachgewiesene Umzugsrechnungen nicht ohne Kontrolle anerkennen will.

In diesem Zusammenhang verurteilen die Hartz 4 -Plattform ausdrücklich das Verhalten des Wiesbadener Sozialforums, dem u.a. die Gewerkschaft ver.di und die Linke Liste angehören. Auf einer Veranstaltung hat dort vor kurzem ein Anwalt unwidersprochen zum Akzeptieren von Hausbesuchen und Kontoauszugsforderung ermuntert. Und der Moderator hatte diese Wohlverhaltensaufforderung gegen das Gesetz gegenüber Hartz IV-Sachbearbeitern noch damit untermauert, dass er selber damit gute Erfahrungen gemacht habe. „Da stellt sich die Frage: Auf welcher Seite steht eigentlich das Sozialforum?“ resümiert Brigitte Vallenthin.

Als einen ersten kleinen Schritt in die richtige Richtung begrüßt die Hartz 4 -Plattformdes Vorsitzenden des Hartz IV-Senats beim BSG, Prof. Dr. Peter Udsching, der von Überlegungen im Bundessozialgericht spricht, die strenge Pauschalierung des 347 €-Regelsatzes aufzuweichen. Dr. Udsching ließ erkennen, dass er es begrüßen würde, wenn die Gerichte damit ein Ventil bekämen, um Bedarfe de jeweiligen Einzelfällen anzupassen. (29.01.2008)