Die Arbeitslosenstatistik: Märchen aus Nürnberg

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Die Arbeitslosenstatistik: Ein Märchen aus Nürnberg
Auszug des Aufstatzes von Stephan Idel

Es gab einmal einen Bundesrechnungshof, der brachte die gesamte Bundesanstalt für Arbeit in Verruf. In den Weihnachtsferien 2002 ereilte das Bundeskanzleramt eine E-Mail, in der auf schockierende Ergebnisse einer Prüfung der damaligen Bundesanstalt für Arbeit durch den Bundesrechnungshof hingewiesen wurde.

Die Anstalt hatte Übergänge aus Arbeitslosigkeit in Arbeit sich selbst als Vermittlung durch ihre Mitarbeiter gebucht und damit ihre Bilanz grob gefälscht. Ein beispielloser Ansehensverlust war die Folge. Die Demission des Präsidenten Jagoda und die Inthronisierung Gersters als Vorstandsvorsitzender folgten. Die BA machte sich medienfit, mutierte zu einer Agentur und dann geschah das Unglaubliche. Nicht nur Show und Lifting bekam das Mauerblümchen. Nein, auch im Erfolg glich sie auf einmal der strahlenden Prinzessin, die aus Aschenputtel geworden war. Sogar der Rückgang der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung wurde so groß, dass die Steigerungen der Krankenkassen-beiträge im Wahljahr 2009 praktisch kaum zu spüren sein werden. Das hat ganz allein die BA geschafft! Eine Meisterleistung. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit seit 2005 allerdings ist so frappierend und gigantisch, dass man ihn kaum glauben kann. Die Bundesagentur für Arbeit mauserte sich so vom Aschenputtel zur Prinzessin. Schaut nur wie strahlend schön sie ihre atemberaubenden Kreise und Pirouetten auf dem Parkett im Ballsaal der großen Politik dreht. Wie in Grimms Märchen. In der Nation der Dichter und Denker sollte man nicht jedes Märchen gleich glauben und ab und an sich die Mühe machen und sich seines Verstandes bedienen, um ein Märchen auch einmal aufzuklären. Später kann man dann die Märchen viel besser verstehen.

Immanuel Kant in seinem preisgekrönten Aufsatz „Was ist Aufklärung?„: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.„ Entschließung und Mut braucht es schon, dieses Wunder aus Nürnberg ohne Leitung eines anderen begreifen zu wollen. Was hat sich da eigentlich ereignet? Und warum? Es klingt wahrlich wie im Märchen. Man hört fast schon die passenden Passagen: „Sieben auf einen Streich!„ oder „Großmutter, warum hast du denn so große Ohren?„Von 5 Millionen auf 3 Millionen binnen dreieinhalb Jahren. Das ist fast halbiert. Welche Volkswirtschaft hat das je schon einmal geschafft. Und nur mit legalen Mitteln der Demokratie. Diese Realität heute zu beschreiben, klingt fast so, als habe man den Mund ebenso voll wie der Mund des letzten Kanzlers, der die Arbeitslosigkeit halbieren wollte. Die heutige Bundesregierung hat nun geschafft, was er nicht schaffte und woran er sich messen lassen wollte und wohl auch gemessen wurde.

2. Begleitende Erscheinungen während der Heldentat

Allein, die aufmerksame Lektüre der Monatsberichte der Bundesagentur für Arbeit belehrt uns allerdings eines Besseren. Was können wir dort erkennen? Leider nichts Märchenhaftes.

1. Ja, die nach heutiger Statistikdefinition als arbeitslos geltenden Menschen sind weitaus weniger als die im Januar 2005. Seitdem ist einiges passiert.

2. Viele Menschen sind aus der Arbeitslosenstatistik verschwunden:

a. Der demographische Wandel schreitet voran: Immer mehr Menschen erreichen das Rentenalter und treten aus der Alterskohorte 16 – 65 aus, immer weniger aber münden ein. Das gibt einen ständigen natürlichen Trend zu sinkenden Erwerbspersonen und damit Arbeitslosen (p.a. ca. -130.000).

b. Wir befanden uns im Aufschwung. Die Zahl der sozialversicher-ungspflichtigen Arbeitsplätze ist gewachsen. Überproportional bei Leiharbeitsfirmen. Das sind sehr prekäre Arbeitsplätze.

c. Viele Arbeitslose nutzen (z.T. verzweifelt) Anreize, um sich selbständig zu machen. Auch diese Zahl ist gestiegen. Auch das sind prekäre Arbeitsverhältnisse. In der Vergangenheit führten viele Gründungen binnen weniger Jahre in die Insolvenz. Der Schutz der Arbeitslosenversicherung geht dabei allerdings oft verloren.

d. Die Zahl der Menschen, die auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind, ist seit Januar 2005 gleichgeblieben. Das ist die allergrößte Überraschung. Das muss man sich klarmachen. Während alle diese Trends wirkten, blieb diese Zahl praktisch unverändert.

e. Es gibt durchaus Zu- und Abgänge, sprich Fluktuation innerhalb der Zahl derjenigen, die auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind. Aber auch Verfestigung. Im August 2008 gab es 6,684 Millionen Menschen, die auf Hartz-IV-Leistungen angewiesen waren. 50% davon haben bereits im Januar 2005 Hartz-IV-Leistungen bezogen. Dreieinhalb Jahre und viele positive Trends konnten nichts daran ändern, dass es heute noch genau so viele Hartz-IV-Empfänger gibt und die Hälfte der Personen stabil und unverändert im Langzeitbezug stehen.

f. Sechsmillionensechshundertvierundachtzigtausend (6,684 Mio.)? Die Arbeitslosigkeit verschiebt sich, bzw. wurde verschoben, bzw. verschiebt Menschen in andere Rechtskreise. Trotz Reform der Bundesanstalt in eine „Agentur für Arbeit„, trotz Aufschwung, neuer gesetzlicher und technischer Möglichkeiten ist die BA mit ihren Arbeitsagenturen zum größten Verschiebebahnhof aller Zeiten geworden. Während insgesamt zurückgehender Arbeitslosenzahlen wuchs die Zahl auf Hundertausende, die jährlich aus der Versicherung (SGB III) raus und in die Steuerhilfe (SGB II) rein

verschoben wurden. Nur noch 25 % der Arbeitslosen befindet sich zurzeit noch im Rechtskreis des SGB III. Drei Viertel der Arbeits-losigkeit ist in Hartz IV angekommen. Die Arbeitslosigkeit im SGB II ist dreimal größer als die Arbeitslosigkeit, für die die Bundesagentur zuständig ist.

g. Sechsmillionensechshundertvierundachtzigtausend? „Wieso hast Du dann nur knapp 3 Millionen Arbeitslose, Großmutter? So hätte vielleicht Rotkäppchen im Märchen den BA-Wolf im Großmutterpelz gefragt. Der Deutsche Bundestag beschloss Änderungen in der Definition, wer als arbeitslos gilt. Diese bewirken automatisch Verschiebungen in der Statistik. Das hat jeder Bundestag gemacht. Ein einfacher Vergleich der Arbeitslosenzahlen und -quoten von heute und von vor vier Jahren verbietet sich ohnehin, weil man vermutlich Äpfel mit Apfelsinen vergleicht. Diese Änderungen der Statistikregeln haben u.a. bewirkt, dass Fortschritte im inneren Aufbau der örtlichen Hartz-IV-Organisationen auch digital sich auswirkten. Es gab einen quasi naturwüchsigen steigenden Erfassungs- und Dokumentationsgrad (sog. Füllgrade der Datensätze). So bildete sich wie von selbst aus organisatorischen Einschwingungs- aber auch Umstellungsprozessen ein steigende Aktivierung und Sanktionierung der Arbeitslosen. Insbesondere die „Ausnahmetatbestände„ wurden zunehmend lückenloser erfasst.

Was heißt das? Wenn z.B. ein Leistungsbezieher eine vorübergehende Erkältung bekam, dann konnte man ihn als nicht verfügbar einstufen, und so war er auf einmal auch nicht mehr als arbeitslos zu führen. Sein "Arbeitslosigkeitszeitraum" war dann zunächst zu beenden. Oder das Kriterium Langzeitarbeitslosigkeit: Allein ein abgebrochener Arbeitsversuch von einem Tag z.B. auf einem 1-Euro-Job löscht sogar jegliche Langzeitarbeitslosigkeit. Der Arbeitslose ist ab dann kurzzeitarbeitslos, denn am folgenden Tag ist z.B. „ein neuer Arbeitslosigkeitszeitraum zu eröffnen„. Solche Kautelen sind kompliziert und in ihrer Wirkung nicht immer völlig zu durchschauen. Man kann fast den Überblick verlieren, ähnlich wie ein Vorstand angesichts all der neuen Finanzprodukte wie Zertifikate, Derivate, Optionsscheine, Puts, Calls und Leerverkäufe. Im Ergebnis verteilen sich jedoch die Viermillionenachthundertachtundneunzigtausend (4,898 Mio.) sogenannten erwerbsfähigen Hilfeberechtigten (eHb) unter den Sechsmillionensechshundertvierundachtzigtausend (6,646 Mio.) – und nur die können arbeitslos sein .. Den ganzen Aufsatz von Stephan Idel können Sie als PDF Dokument downloaden. (Stephan Idel, 11.02.2009)

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