Schwerbehinderung: Wegweisendes Urteil – Eltern dürfen Assistenz zu Hause einfordern

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Ein Urteil des Sozialgerichts Lüneburg vom 12. Februar 2025 sorgt derzeit bundesweit für Aufmerksamkeit. Erstmals wurde dort entschieden, dass Kinder mit schwerer Behinderung auch außerhalb der Schulzeit Anspruch auf Assistenzleistungen haben – konkret in den Nachmittagsstunden, an Wochenenden und in den Ferien.

Die Entscheidung ist nicht nur ein juristischer Meilenstein, sondern auch eine bedeutende Erleichterung für viele Familien, die bislang auf stationäre Einrichtungen verwiesen wurden.

Junge mit schwerer Behinderung soll für Assistenz ins Heim ziehen

Das Urteil (Az.: S 38 SO 9/22) betrifft einen elfjährigen Jungen mit einer schweren geistigen Beeinträchtigung, dem sogenannten Fragilen-X-Syndrom. Der Junge lebt mit seinen Eltern und Geschwistern in einem Einfamilienhaus. Trotz hoher Pflegebedarfe und erheblicher Einschränkungen im Alltag verweigerte der zuständige Sozialhilfeträger die beantragte ambulante Assistenz am Nachmittag – mit der Begründung, solche Leistungen könnten nur in einer besonderen Wohnform, also in einem Heim, erbracht werden.

Die Familie klagte – und bekam nun vollumfänglich Recht.

Familienunterstützung statt Heimunterbringung: Gericht rückt Kindeswohl in den Mittelpunkt

Das Gericht stellte klar: Kinder mit Behinderungen dürfen nicht dazu gedrängt werden, ihr Zuhause zu verlassen, nur um notwendige Unterstützungsleistungen zu erhalten. Vielmehr müsse sich die Eingliederungshilfe nach den tatsächlichen Bedürfnissen des Kindes und seinem Lebensumfeld richten – und nicht an institutionellen Grenzen haltmachen.

Die Richter argumentierten, dass die gesetzliche Grundlage für ambulante Assistenz eindeutig sei. Nach § 78 SGB IX bestehe ein Anspruch auf personenzentrierte Leistungen zur Alltagsbewältigung, auch außerhalb schulischer Einrichtungen. Hierzu gehören unter anderem Hilfe beim Essen, Anziehen, Spielen, beim sozialen Miteinander und der Tagesstruktur.

Im konkreten Fall zeigte sich, dass das Kind in nahezu allen Lebensbereichen weitgehend unselbstständig ist. Er ist rund um die Uhr auf Hilfe angewiesen – beim Toilettengang, bei der Nahrungsaufnahme, bei der Kommunikation, bei der Orientierung im Haushalt und im Straßenverkehr. Ohne ständige Anleitung und Aufsicht sind weder Eigenständigkeit noch Sicherheit gewährleistet.

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Urteil bringt Klarheit für Familien – und entlastet die Eingliederungshilfe in der Praxis

Bisher war die Frage, ob ambulante Assistenzleistungen für Kinder mit Behinderung auch außerhalb der Schulzeit gewährt werden müssen, rechtlich umstritten. Viele Sozialhilfeträger gingen davon aus, dass Familien diese Aufgaben selbst übernehmen müssten – und verwiesen auf die elterliche Unterhaltspflicht (§ 1601 BGB).

Das Gericht widersprach dieser Argumentation deutlich. Zwar seien Eltern grundsätzlich zur Pflege und Erziehung verpflichtet, die besondere Assistenz, die der Kläger benötige, gehe aber weit über das hinaus, was familiär leistbar sei – vor allem, wenn beide Eltern voll berufstätig sind. Eine solche Rundum-die-Uhr-Betreuung sei mit der Erwerbsarbeit und der Versorgung weiterer Kinder schlicht unvereinbar.

Der Sozialhilfeträger argumentierte zudem, dass ein stationäres Angebot – konkret: Wochenendaufenthalte in einer Betreuungseinrichtung – die geeignetere Maßnahme sei. Auch das wies das Gericht zurück. Der Junge hatte eine solche Einrichtung an einem Wochenende ausprobiert, war jedoch so überfordert, dass er weinend die Rückkehr nach Hause verlangte. Für die Richter war klar: Eine Maßnahme, die das Kind nicht emotional verarbeiten kann, darf nicht gegen seinen Willen durchgesetzt werden.

Recht auf Teilhabe gilt auch in der Familie – ein Umdenken in der Eingliederungshilfe ist nötig

Das Sozialgericht betonte, dass das Ziel der Eingliederungshilfe die gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist – unabhängig davon, ob diese in einer Einrichtung oder in der Familie erfolgt. Der Gesetzgeber habe ausdrücklich vorgesehen, dass Menschen mit Behinderung selbst mitentscheiden dürfen, wie und wo sie leben und welche Unterstützung sie benötigen.

Das betrifft auch Kinder: Selbst wenn sie noch nicht voll urteilsfähig sind, muss ihr Wille berücksichtigt werden – ebenso wie das Interesse an einem stabilen Familienleben. Eine pauschale Empfehlung zum Heimauszug widerspricht diesem Prinzip.

Besonders relevant: Der Anspruch auf Assistenz besteht unabhängig davon, ob ein sogenannter Teilhabeplan nach § 19 SGB IX erstellt wurde. Ein solcher Plan dient lediglich der Bedarfsfeststellung, ist aber keine Voraussetzung für die Leistungsgewährung. Im vorliegenden Fall hatte der Sozialhilfeträger seine Verpflichtung zur Aufstellung eines Plans versäumt – ein Versäumnis, das nicht zulasten des Kindes ausgelegt werden darf.

Was das Urteil für andere Familien bedeutet – und was Sie jetzt tun können

Das Urteil aus Lüneburg hat über den Einzelfall hinaus Bedeutung. Es schafft Orientierung für Familien, deren Kinder zwar schulisch gefördert werden, deren Assistenzbedarf aber den Unterrichtsrahmen deutlich übersteigt.

Auch ambulante Betreuung in der Freizeit, am Nachmittag oder an Wochenenden kann nun rechtssicher beantragt werden – sofern ein behinderungsbedingter Bedarf besteht. Entscheidend ist, dass die Maßnahme nicht nur betreuend wirkt, sondern entwicklungsfördernd und sozial integrierend ist.

Eltern sollten sich im Zweifel nicht auf Ablehnungen von Behörden verlassen, sondern fachlichen Rat einholen – etwa bei Sozialverbänden, Beratungsstellen oder Fachanwälte für Sozialrecht. Ein abgelehnter Antrag kann oft erfolgreich mit Widerspruch oder Klage überprüft werden.