Eine Verkäuferin klagte gegen ihren Arbeitgeber, weil dieser das Arbeitsverhältnis kündigte, bevor über ihren Antrag auf Schwerbehinderung entschieden war. Trotz ihrer gesundheitlichen Einschränkungen lehnte das Gericht ihre Klage ab: Mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 30 stand ihr kein besonderer Kündigungsschutz zu.
Inhaltsverzeichnis
Hintergrund des Falls
Die Klägerin war seit Juli 2021 in Vollzeit tätig und bezog den gesetzlichen Mindestlohn. Während ihrer Beschäftigung stellte sie einen Antrag auf Anerkennung ihrer Schwerbehinderteneigenschaft. Sie hatte gesundheitliche Probleme und befand sich zeitweise in stationärer Behandlung.
Gleichzeitig kündigte die Firma ihr Arbeitsverhältnis ordentlich und verwies darauf, dass sie weniger als zehn Beschäftigte habe. Damit gelte das Kündigungsschutzgesetz nicht in vollem Umfang.
Der Kernpunkt der Auseinandersetzung: Die Klägerin wollte den besonderen Kündigungsschutz nach dem Sozialgesetzbuch (SGB IX) für schwerbehinderte Menschen in Anspruch nehmen. Dieser Schutz verpflichtet Arbeitgeber, vor einer Kündigung zunächst das Integrationsamt einzubeziehen.
Die Klägerin vertrat die Ansicht, ihr offenes Antragsverfahren und eine rückwirkende Anerkennung müssten bereits ausreichen, um sie zu schützen.
Der Weg durch die Instanzen
Die Verkäuferin reichte Kündigungsschutzklage ein. Sie argumentierte, das Unternehmen hätte aufgrund ihres laufenden Anerkennungsverfahrens und ihres Gesundheitszustands das Integrationsamt einschalten müssen. Laut ihrer Auffassung sei die Kündigung deshalb unwirksam.
Der Arbeitgeber sah das anders und verwies darauf, dass eine GdB-Feststellung von mindestens 50 notwendig sei. Zudem bestünde kein allgemeiner Kündigungsschutz, weil der Betrieb zu klein sei.
Das Verfahren landete vor dem zuständigen Arbeitsgericht, das die Umstände intensiv prüfte. Letztlich entschied es zugunsten des Arbeitgebers: Die Kündigung blieb wirksam.
Entscheidungsgründe des Gerichts
Das Gericht stellte zunächst fest, dass die Klägerin lediglich einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 erreichte. Da der Gesetzgeber den besonderen Kündigungsschutz erst ab einem Wert von mindestens 50 vorsieht, konnte sie darauf nicht zurückgreifen.
Gleichzeitig berücksichtigte das Gericht den Zeitpunkt des Antrags auf Schwerbehinderung: Wer seinen Antrag noch vor dem Zugang einer Kündigung stellt, kann bei einer späteren Anerkennung eines GdB von mindestens 50 (oder einer Gleichstellung) rückwirkend geschützt sein.
In diesem Fall lag aber nur ein GdB von 30 vor, sodass selbst ein laufendes Widerspruchsverfahren nicht zu einer Aussetzung der Verhandlung führte.
Zusätzlich gilt das Kündigungsschutzgesetz in Betrieben mit weniger als zehn Mitarbeitenden nur eingeschränkt. Auch der bestandskräftige Bescheid des Versorgungsamts wurde geprüft.
Behördenbescheide sind grundsätzlich verbindlich, solange sie nicht offenkundig fehlerhaft oder nichtig sind. Das Gericht stellte jedoch keine Nichtigkeitsgründe fest und folgte der Feststellung, dass kein höherer GdB als 30 vorliegt.
Wie sieht die Rechtslage aus?
Besonderer Kündigungsschutz (§ 168 SGB IX): Er gilt nur für Personen, die zum Kündigungszeitpunkt mindestens einen GdB von 50 haben oder deren Antrag auf Schwerbehinderung später positiv mit mindestens GdB 50 beschieden wird.
Kleinbetriebsregelung (§ 23 KSchG): Bei weniger als zehn regelmäßig Beschäftigten greift der allgemeine Kündigungsschutz nicht in gleichem Maße.
Bindungswirkung von Behördenbescheiden: Wird ein GdB zuerkannt, muss das Gericht diese Entscheidung in der Regel übernehmen, sofern keine offenkundigen Mängel vorliegen.
Bedeutung des Urteils für Arbeitnehmer
Sie können bereits während des laufenden Arbeitsverhältnisses aktiv werden, um mögliche rechtliche Vorteile zu sichern, sollten jedoch genau prüfen, ob Ihre gesundheitlichen Einschränkungen für einen GdB von 50 ausreichen. Sobald Sie den Antrag gestellt haben, ist es sinnvoll, den Arbeitgeber zügig zu informieren, damit er die Situation angemessen berücksichtigen kann.
Liegt ein GdB von 30 oder 40 vor, ist zudem ein Gleichstellungsantrag bei der Agentur für Arbeit möglich, der Ihnen unter Umständen einen ähnlichen Schutz bietet wie bei einem GdB von 50.
Bedeutung für Arbeitgeber
Unternehmen sollten im Vorfeld jeder Kündigung unbedingt klären, ob der besondere Kündigungsschutz greifen könnte. Das verringert das Risiko rechtlicher Auseinandersetzungen und schützt vor möglichen Schadensersatzforderungen. Eine vollständige Dokumentation ist ebenso wichtig: Personalakten mit klaren Einträgen zu Krankheitszeiten, ärztlichen Bescheinigungen und sämtlichem Schriftwechsel beugen Missverständnissen vor.
Wenn ein Grad der Behinderung von 50 oder eine Gleichstellung realistisch erscheint, müssen Arbeitgeber zudem die Zustimmung des Integrationsamts abwarten, bevor sie eine Kündigung aussprechen. Wer dies übersieht, riskiert eine unwirksame Kündigung.
Praxisbeispiel: Kündigung in Kleinbetrieben
Angenommen, ein Kleinbetrieb mit sieben Beschäftigten muss aus wirtschaftlichen Gründen eine Stelle abbauen. Wird einem Mitarbeitenden gekündigt, der gerade ein Feststellungsverfahren zum Schwerbehindertenstatus durchläuft, bleibt das Risiko einer gerichtlichen Auseinandersetzung.
Doch solange dem Mitarbeitenden kein GdB von 50 (oder Gleichstellung) bescheinigt wird, bedarf es keiner Zustimmung des Integrationsamts. Das setzt voraus, dass der Betrieb korrekt informiert war und keine zusätzlichen Tarif- oder Betriebsvereinbarungen greifen.