Wer länger als sechs Wochen krankgeschrieben ist, bekommt von seiner gesetzlichen Krankenkasse Krankengeld. Die Höhe dieser Leistung ist gesetzlich exakt geregelt – dennoch kommt es immer wieder zu Streitigkeiten, weil Arbeitgeberlöhne immer komplexer werden: Fixgehalt, Provisionen, Boni, Gewinnbeteiligungen, Optionsprogramme.
Das aktuelle Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg (Az. L 5 KR 3231/21) zeigt, wie entscheidend die Unterscheidung zwischen regelmäßigen und unregelmäßigen Sonderzahlungen ist und wann sich ein Widerspruch für Versicherte lohnt.
Inhaltsverzeichnis
Gesetzlicher Rahmen – Krankengeld in Zahlen und Paragrafen
- Anspruchsvoraussetzungen: § 44 SGB V – Arbeitsunfähigkeit nach Ablauf der Arbeitgeber‑Entgeltfortzahlung (in der Regel nach 6 Wochen).
- Berechnung: § 47 Abs. 1 SGB V – 70 % des regelmäßigen Bruttos, gedeckelt auf 90 % des Nettos.
- Bemessungszeitraum: die letzten drei abgerechneten Kalendermonate (jeweils 30 Tage, insgesamt 90 Tage). Bei wöchentlicher Lohnabrechnung werden 13 Wochen zugrunde gelegt.
- Sonderfall Einmalzahlungen: § 47 Abs. 2 S. 6 SGB V – „Einmalige Einnahmen, die regelmäßig gezahlt werden, sind mit 1/360 ihres Betrags hinzuzurechnen.“
Regelmäßig heißt: planbare, jährlich oder halbjährlich wiederkehrende Zahlung ohne Anknüpfung an unvorhersehbare Ereignisse. Klassische Beispiele: Weihnachts- oder Urlaubsgeld. Keinesfalls umfasst sind Prämien, die nur bei bestimmten Projekterfolgen oder Umsatzzielen fließen.
Lesen Sie auch:
- Weniger Krankengeld nach der Reha – Was steckt hinter dem Urteil?
- Mehr Krankengeld durch Weihnachtsgeld und Urlaubsgeld
Der konkrete Fall
Der zeitliche Ablauf des Geschehens lässt sich prägnant zusammenfassen: Im Sommer 2018 zahlte der Arbeitgeber dem Kläger, einem als Redakteur beschäftigten und freiwillig in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherten Arbeitnehmer, drei projektbezogene Prämien von jeweils 1 500 Euro.
Diese Bonuszahlungen waren auf den Gehaltsabrechnungen ausdrücklich als Einmalig gekennzeichnet, obwohl die Kopfzeile der Abrechnung ein “Bruttoarbeitsentgelt” von 9 500 Euro auswies.
Für die spätere Krankengeldbemessung legte die Krankenkasse den Zeitraum August bis Oktober 2018 zugrunde, also die letzten drei abgerechneten Kalendermonate vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit. Am 26. November 2018 erkrankte der Kläger und war fortan arbeitsunfähig. Nach Ablauf der sechswöchigen Entgeltfortzahlung, die am 7. Januar 2019 endete, übernahm die Krankenkasse ab dem 8. Januar 2019 die Leistungen und zahlte Krankengeld.
#Da die Kasse dabei ausschließlich das fixe Monatsgehalt in die Berechnung einbezog und die projektbezogenen Prämien unberücksichtigt ließ, legte der Kläger Widerspruch ein, scheiterte damit jedoch vor dem Sozialgericht und verfolgte sein Anliegen anschließend im Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht weiter.
Entscheidung des LSG Baden-Württemberg
Die Berufung blieb ohne Erfolg. Die wichtigsten Leitsätze des Urteils:
- Unregelmäßige Prämien bleiben außen vor. § 47 Abs. 2 S. 6 SGB V setze eine kalenderperiodische Wiederkehr voraus. Projektprämien, Inflationsausgleichsprämien oder Corona-Boni seien naturgemäß nicht vorhersehbar.
- Lohnersatzprinzip schützen. Würde man jeden Bonus berücksichtigen, könnte Krankengeld höher sein als das reguläre Arbeitsentgelt – ein klarer Verstoß gegen das Prinzip des „gleichwertigen, aber nicht höheren“ Lohnersatzes.
- Keine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes. Berechnungsmethoden in anderen Rechtsgebieten (BAföG, Kindesunterhalt, Steuerrecht) dienten völlig anderen Zwecken. Der Gesetzgeber dürfe differenzieren.
- Bemessungszeitraum korrekt gewählt. August bis Oktober 2018 lägen unstreitig vor Beginn der AU. Eine spätere Prämie im Bemessungszeitraum hätte selbst bei Regelmäßigkeit nur anteilig (1/360) gewirkt.
Das Gericht ließ die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zwar zu, aber bis dato ist keine Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) anhängig.
Verfassungsrechtliche Einwände des Klägers
Der Versicherte sah eine Ungleichbehandlung gegenüber Berechnungssystemen in Straf-, Steuer- und Sozialrecht. Das LSG stellte klar: Das Krankengeld knüpfe an ein vollkommen anderes Schutzgut an – den Ausgleich des Verdienstausfalls bei Krankheit – und folge daher eigenständigen Regeln. Eine Analogie etwa zur Bemessung von Geldstrafen (§ 40 StGB) oder BAföG (§ 21 BAföG) verbiete sich. Schon das Bundesverfassungsgericht habe den Gesetzgebern einen weiten Gestaltungsspielraum bei sozialversicherungsrechtlichen Typisierungen eingeräumt.
Praktische Bedeutung für Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Krankenkassen
Arbeitnehmer
- Prüfen Sie jede Entgeltabrechnung: Ist der Bonus als laufend oder einmalig ausgewiesen?
- Fixieren Sie regelmäßig zugesagte Prämien vertraglich. Ein „freiwilliger“ Passus kann Ihrem Krankengeld später schaden.
- Widerspruchsfristen (in der Regel ein Monat) einhalten und Unterlagen (Lohnjournale, Provisionslisten) vollständig einreichen.
Arbeitgeber
- Trennen Sie den variablen und fixen Gehaltsbestandteil transparent.
- Benennen Sie Zahlungsmodalitäten im Arbeitsvertrag klar (z. B. „jährlich zum Dezember“).
- Vermeiden Sie Streit, indem Sie wiederkehrende Boni als solche kennzeichnen und rechtzeitig SV-Beiträge abführen.
Krankenkassen
- Fordern Sie vollständige Gehaltsnachweise an, um „verdeckte“ Prämien zu erkennen.
- Erläutern Sie Berechnungswege verständlich, um Widersprüche zu reduzieren.
Beispielrechnung: So wirkt (oder wirkt nicht) eine Sonderzahlung
Angestellte A verdient monatlich 3 500 € brutto. Zusätzlich erhält sie jedes Jahr im November Weihnachtsgeld in gleicher Höhe.
Fall 1– Krankheit im April: Bemessungszeitraum Januar–März. Das Weihnachtsgeld liegt außerhalb, es wird nicht berücksichtigt. Krankengeld = 70 % von 3 500 € = 2 450 € brutto monatlich ≈ 81,67 € kalendertäglich, gedeckelt auf 90 % des Netto.
Fall 2 – Krankheit im Dezember: Bemessungszeitraum September–November. Nun fließen 1/360 des Weihnachtsgelds (ca. 9,72 €) täglich ein. Das Krankengeld erhöht sich um rund 291 € pro Monat.
Würde der Arbeitgeber stattdessen im Februar einen einmaligen Projektbonus von 2 000 € zahlen, hätte das keinen Einfluss: Er ist nicht regelmäßig und bleibt unberücksichtigt.
FAQ – Häufige Fragen zum Thema
Frage | Kurzantwort |
Gilt das Urteil auch für Minijobber? | Ja, sofern sie gesetzlich versichert sind (z. B. über Familienversicherung oder freiwillig). |
Was ist mit Provisionen? | Sind sie wiederkehrend und planbar (z. B. monatliche Umsatzprovision), zählen sie als laufender Arbeitslohn. |
Kann ich freiwillig höhere Beiträge zahlen, um höheres Krankengeld zu erhalten? | Nein, Krankengeld orientiert sich am letzten Verdienst, nicht an freiwilligen Zusatzbeiträgen. |
Wie lange wird Krankengeld gezahlt? | Maximal 78 Wochen innerhalb von 3 Jahren für dieselbe Krankheit (§ 48 SGB V). |
Darf das Krankengeld mein Netto‑Gehalt übersteigen? | Nein, genau das verhindert die 90‑%-Obergrenze aus § 47 Abs. 1 SGB V. |
Zusammenfassung
Das Urteil stärkt die Rechtssicherheit, ohne neue Hürden aufzubauen: Wer jedes Jahr ein Weihnachts- oder Urlaubsgeld erhält, profitiert weiterhin davon, falls er krank wird. Wer dagegen einmalige Erfolgsprämien einfährt, muss akzeptieren, dass diese sein Krankengeld nicht erhöhen.
Für Beschäftigte lohnt sich eine genaue Prüfung des Arbeitsvertrags und der Lohnabrechnungen; für Arbeitgeber eine sorgfältige Dokumentation der Vergütungsstrukturen. Krankenkassen wiederum gewinnen durch das Urteil Argumentationssicherheit gegenüber Versicherten.
Bleibt abzuwarten, ob eine Revision zum Bundessozialgericht weitere Leitlinien setzt. Bis dahin gilt: Regelmäßigkeit schlägt Einmaligkeit – zumindest, wenn es um die Berechnung des Krankengeldes geht.