Über eine halbe Million Witwenrente wird nicht gezahlt

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Viele eigentlich anspruchsberechtigten Witwen und Witwer dürfen keine Witwenrente beziehen. Die Hauptursache dafür liegt in der sogenannten Einkommensanrechnung, die dazu führt, dass Rentenansprüche mit anderen Einkünften verrechnet werden.

Die Anrechnung sorgt dafür, dass Witwen und Witwer, deren Einkommen über einer bestimmten Grenze liegt, ihre Hinterbliebenenrente entweder gekürzt oder gar nicht ausgezahlt bekommen.

Was können also Betroffene tun, damit sie dennoch die Witwenrente beziehen können?

Was ist die Einkommensanrechnung und warum führt sie zur Nichtzahlung der Witwenrente?

Die Einkommensanrechnung bezieht sich auf die Berechnung der Witwen- oder Witwerrente basierend auf dem eigenen Einkommen des Hinterbliebenen.

Das bedeutet, dass wenn ein Witwer oder eine Witwe zusätzlich zur Hinterbliebenenrente ein Erwerbseinkommen oder andere Einkünfte, wie z.B. Renten aus einer privaten Altersvorsorge, hat, diese Einkünfte bei der Berechnung der Rentenhöhe berücksichtigt werden.

Liegt das Einkommen über einer festgelegten Freigrenze, wird die Witwenrente bzw. Witwerrente entsprechend gekürzt oder entfällt komplett. Dies betrifft hauptsächlich diejenigen, die entweder weiterhin arbeiten oder andere Einnahmen haben, wie z.B. aus Kapitalanlagen oder Mieten.

Laut der Deutschen Rentenversicherung betraf dies im Jahr 2023 rund 567.000 Menschen. Eine hohe Zahl, die zeigt, wie stark das Thema Einkommensanrechnung die Auszahlung von Hinterbliebenenrenten beeinflusst.

Wie hat sich die Zahl der nicht gezahlten Witwenrenten entwickelt?

Interessanterweise hat sich die Zahl der nicht ausgezahlten Witwenrenten im Vergleich zum Vorjahr deutlich erhöht.

Im Jahr 2022 waren es noch rund 106.000 Witwenrenten, die aufgrund der Einkommensanrechnung nicht gezahlt wurden. Der Sprung auf 567.000 im Jahr 2023 ist erheblich. Der Anstieg lässt sich vor allem durch gestiegene Erwerbseinkommen erklären.

Immer mehr Frauen sind berufstätig und erzielen ein höheres Einkommen, was dazu führt, dass sie unter die Einkommensanrechnung fallen und ihre Rentenansprüche verlieren oder stark gekürzt werden.

Besonders betroffen sind Frauen: Rund 433.000 Männer und 134.000 Frauen haben im Jahr 2023 ihre Hinterbliebenenrente nicht erhalten.

Der Anstieg bei den Frauen im Vergleich zu 2022 liegt bei fast 30.000 zusätzlichen Fällen. Dies zeigt die zunehmende Problematik der Einkommensanrechnung, insbesondere bei Frauen, die durch ihre Arbeitstätigkeit auf die zusätzliche Rente verzichten müssen.

Ein Beispiel aus der Praxis

Frau Meier ist 62 Jahre alt und hat vor zwei Jahren ihren Ehemann verloren. Seitdem erhält sie eine Witwenrente in Höhe von 712 € brutto pro Monat. Zusätzlich arbeitet sie in Teilzeit als Verkäuferin und verdient monatlich 1.500 € brutto. Aufgrund der Einkommensanrechnung wird ihr Einkommen jedoch auf ihre Witwenrente angerechnet.

Die Freigrenze für das anrechnungsfreie Einkommen liegt im Jahr 2023 bei etwa 950 €. Da Frau Meier über dieser Grenze liegt, wird ihr Erwerbseinkommen angerechnet.

Von den 1.500 €, die sie verdient, werden rund 550 € über die Freigrenze hinaus als anrechenbares Einkommen betrachtet. Dieses Einkommen wird zu 40 % auf ihre Witwenrente angerechnet. Das bedeutet, dass 220 € (40 % von 550 €) von ihrer Witwenrente abgezogen werden.

Statt der vollen 712 € Witwenrente erhält Frau Meier nun nur noch 492 €. Trotz ihrer Teilzeitbeschäftigung und der Witwenrente muss sie also mit deutlich weniger Geld auskommen, als wenn sie keine Einkünfte hätte. Das zeigt, wie die Einkommensanrechnung die finanzielle Lage von Witwen und Witwern erheblich beeinflussen kann.

Warum wird die Einkommensanrechnung kritisiert?

Die Einkommensanrechnung steht seit vielen Jahren in der Kritik. Ein Hauptpunkt ist, dass sie als zu kompliziert und ungerecht empfunden wird. Viele Menschen sehen es als widersprüchlich, dass jemand, der einer Arbeit nachgeht, dafür “bestraft” wird, indem er seine Hinterbliebenenrente verliert.

Auch aus sozialpolitischer Sicht wird bemängelt, dass die Einkommensanrechnung erwerbsfeindlich wirkt, da es sich für viele nicht lohnt, neben der Witwen- oder Witwerrente arbeiten zu gehen, sagt auch der Rentenexperte und Rechtsanwalt Peter Knöppel.

Durch die Einkommensanrechnung verlieren viele Menschen den Anreiz, überhaupt einer Beschäftigung nachzugehen, da sie befürchten, ihre Rentenansprüche einzubüßen.

Ein weiterer Kritikpunkt ist der hohe Verwaltungsaufwand, der mit der Einkommensanrechnung verbunden ist. Die Berechnungen sind komplex, und sowohl die Rentenversicherung als auch private Institutionen müssen in den Prozess eingebunden werden. Dies führt zu zusätzlichen Kosten und einem erheblichen bürokratischen Aufwand.

Gibt es Lösungsansätze für das Problem?

Um diesem Problem zu begegnen, hatte die Bundesregierung bereits Pläne entwickelt, um die Einkommensanrechnung zu reformieren.

Ein neuer Freibetrag für Erwerbseinkommen sowie ein Sockelbetrag für Erwerbsersatzeinkommen, wie Krankengeld oder Arbeitslosengeld, sollten eingeführt werden.

Dieser Sockelbetrag sollte sicherstellen, dass mehr Menschen von ihrer Hinterbliebenenrente profitieren können, auch wenn sie weiterhin erwerbstätig sind.

Doch es gibt schlechte Nachrichten: Die Einführung dieses Freibetrags wurde auf den 1. Juli 2027 verschoben, statt wie ursprünglich geplant auf den 1. Juli 2025. Diese Verzögerung bedeutet für viele Witwen und Witwer, dass sie weiterhin auf höhere Rentenansprüche verzichten müssen.

Welche Auswirkungen hat die Verzögerung der Reform?

Die Verschiebung der Reform ist besonders für Frauen ein harter Schlag. Statistisch gesehen sind Frauen deutlich häufiger auf ihre Hinterbliebenenrente angewiesen als Männer.

Dies liegt unter anderem daran, dass Frauen oft geringere Einkommen erzielen, häufig in Teilzeit arbeiten oder wegen der Kindererziehung und Pflege von Angehörigen weniger berufstätig sind.

Wenn das Einkommen des verstorbenen Ehepartners wegfällt, entsteht eine finanzielle Lücke, die durch die Hinterbliebenenrente gefüllt werden sollte.

Die Verzögerung der Reform bedeutet oft für viele Frauen und Männer eine Fortsetzung dieser ungerechten Situation, in der sie weiterhin auf eine dringend benötigte Rentenleistung verzichten müssen.

Was sollten Betroffene tun?

Obwohl die Reformen noch auf sich warten lassen, gibt es Möglichkeiten für Betroffene, aktiv zu werden. Wenn sich das eigene Einkommen beispielsweise um mehr als 10 % verringert, besteht die Möglichkeit, einen Überprüfungsantrag bei der Rentenversicherung zu stellen.

Dies gilt auch, wenn das Einkommen aus anderen Gründen, wie z.B. Arbeitslosigkeit, wegfällt. In solchen Fällen können Witwen und Witwer erneut prüfen lassen, ob sie Anspruch auf eine höhere Rentenzahlung haben.