15-jährige Schüler werden trotz andauerndem Schulbesuch vom Jobcenter zur Stellensuche aufgefordert und bei Weigerung sanktioniert
04.11.2013
In Nienburg müssen sich Schüler aus Hartz IV-Bedarfsgemeinschaften vorm Jobcenter rechtfertigen, wenn sie nach ihrem 15. Geburtstag weiterhin zur Schule gehen wollen. Die sogenannte Verfolgungsbetreuung, die ab diesem Alter greift, beinhaltet Einladungen zu Terminen mit Rechtsfolgenbelehrungen, die bei Nichteinhaltung Sanktionen gegen die Minderjährigen zur Folge haben können. Die Zeitung „Junge Welt“ (jW) berichtet über einen aktuellen Fall, in dem zwei Brüder, deren Eltern mit Hartz IV aufstocken, massiv vom Nienburger Jobcenter unter Druck gesetzt, weil sie weiterhin zur Schule gehen wollen.
Schulbescheinigung reicht Jobcenter nicht aus
Wie die Zeitung berichtet, haben die Brüder gute Noten, so dass sie sehr wahrscheinlich in wenigen Jahren Abitur machen werden. Beide möchten anschließend studieren. Doch statt diese Pläne zu unterstützen, versucht das Jobcenter die Jugendlichen immer wieder dahingehend zu beeinflussen, Beratungstermine bei der Behörde wahrzunehmen und auf Stellengesuche zu reagieren.
Für das Jobcenter gelten Minderjährige in Bedarfsgemeinschaften ab dem 15. Geburtstag als erwerbsfähig und werden somit ab diesem Zeitpunkt in die Verfolgungsbetreuung aufgenommen. Das beinhaltet auch die Möglichkeit, Sanktionen auszusprechen, sollten die Minderjährigen nicht zu einem Termin erscheinen oder andere „Verstöße“ begehen. Der ältere der beiden Brüder soll der „jW“ zufolge erstmals 2011 aufgefordert worden sein, sich mit Bewerbungen, Lebenslauf, Schulbescheinigung und Zeugniskopie bei der Behörde zu melden. „Ich möchte mit Ihnen Stellengesuche und vermittlungsrelevante Daten besprechen…“, soll die Behörde in ihrer Einladung geschrieben haben und bei einer Verweigerung „können Ihre Leistungen ganz oder teilweise eingestellt werden“.
Der Hartz IV-Satz für Minderjährige zwischen 14 und 17 Jahren beträgt derzeit 289 Euro pro Monat. Damit soll „das physische und soziokulturelle Existenzminimum“ gesichert werden. Um Sanktionen in Form von Leistungskürzungen zu vermeiden, nahm der Junge den Termin bei der Behörde wahr und legte eine Schulbescheinigung vor, aus der hervorging, dass er die Schule noch mehrere Jahre besuchen wird. Dennoch erhielten er und sein jüngerer Bruder ab 2012 weiterhin Einladungen vom Jobcenter.
Jugendliche aus Hartz IV-Bedarfsgemeinschaften sind laut Jobcenter „gesetzlich zur Berufsberatung verpflichtet“
Nachdem dem die Schüler im Oktober erneut zu einem Termin in die Behörde geladen wurden, sagte die Mutter der Jungen diesen ab und legte noch einmal einen Nachweis über den andauernden Schulbesuch vor. „Wir wollten es den Jungs nicht mehr zumuten, ständig vor dem Sachbearbeiter Rechenschaft ablegen zu müssen“, erläuterte die 40-Jährige gegenüber der „jW“. „Eine berufliche Vermittlung ist momentan nicht angezeigt“, teilte sie dem Amt schriftlich mit. Im Antwortschreiben des Jobcenter hieß es, dass die Schüler seit ihrem 15. Geburtstag „Kunden“ der Behörde seien und auch so behandelt würden. „Bei Problemen passgenau tätig werden zu können“, sei das Ziel. Es könne sein, dass die Jugendlichen gegen Ende ihrer Schulzeit schwächer und somit länger hilfebedürftig würden. Deshalb seien die Kontrollen gerechtfertigt und in Kauf zu nehmen. Kinder aus Familien im Hartz IV-Bezug seien „gesetzlich zur Berufsberatung verpflichtet“, teilte die Behörde der Zeitung zufolge weiter mit.
Die Brüder wurden zudem vom Jobcenter darauf hingewiesen, dass ihr Regelsatz um 28,90 Euro werde, da sie ihr Fernbleiben nicht ausreichend begründet hätten. Um sie „zum Sachverhalt anzuhören“ erhielten sie erneut eine Einladung vom Amt. Die Mutter der beiden Jungen ist entrüstet: „Unterhaltspflichtige Elternteile dürfen auch nicht einfach aufhören zu zahlen, wenn das Kind nicht wunschgemäß funktioniert.“ Es handele sich schließlich nicht um eine Kürzung des Taschengeldes sondern um eine Streichung eines Teils der existenzsichernden Leistungen, sagte sie gegenüber der „jW“
Schulbescheinigung reicht laut Bundesbeauftragten für Datenschutz aus
Wie der Bundesbeauftragte für Datenschutz, Peter Schaar, im Internet erläutert, gingen das Jobcenter Schulzeugnisse und Lebensläufe von Schülern nichts an. „Solange das Kind die Schule besucht, genügen Angaben der tatsächlichen Verhältnisse“, berichtet der Experte. Die Mutter der beiden Jungen schilderte gegenüber der „jW“, dass die Belastungen aufgrund des Drucks durch das Jobcenter vor allem den jüngeren der beiden Brüder belasten würden. Er überlege immer wieder, die Schule mit einem Realschulabschluss zu verlassen, um Geld zu verdienen und endlich Ruhe zu haben.
Die Bereichsleiterin des Nienburger Jobcenters, Daniela Meyer, bestätigte gegenüber der „jW“, dass grundsätzlich alle 15-Jährigen von der Behörde angeschrieben würden. Bezüglich der Androhung von Sanktionen könne sie aber keine allgemeine Aussage treffen. „Den Sachverhalt kann ich nur im Einzelfall klären“, sagte Meyer der Zeitung. Inge Hannemann, die Hamburger Jobcenter-Mitarbeiterin, die derzeit aufgrund ihrer sanktionskritischen Äußerungen freigestellt ist, erläuterte gegenüber der „jW“, dass es sich keineswegs um Einzelfälle handele. Auch die Berufsberatung versende immer Termine mit Rechtsfolgenbelehrungen. (ag)
Bild: Dieter Schütz / pixelio.de
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