Wenn der Bescheid zu niedrig oder fehlerhaft war: So lässt sich der Grad der Behinderung korrigieren – oft auch rückwirkend.
Viele Betroffene kennen das: Der Feststellungsbescheid des Versorgungsamts fällt niedriger aus als die eigene Lebensrealität. Wer einen zu niedrigen GdB (Grad der Behinderung) oder fehlende Merkzeichen erhält, steht damit jedoch nicht am Ende.
Mit einem Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X können rechtswidrige Alt-Bescheide gekippt und rückwirkende Ansprüche gesichert werden – mit Wirkung etwa für Steuern, Merkzeichen und Nachteilsausgleiche. Wir zeigen, wie das geht, welche Fristen gelten und worauf es taktisch ankommt.
Inhaltsverzeichnis
Was § 44 SGB X erlaubt – und was nicht
§ 44 SGB X ist die „Korrekturschraube“ des Sozialrechts: Rechtswidrige, nicht begünstigende Verwaltungsakte müssen auf Antrag zurückgenommen werden. Das gilt auch für Feststellungsbescheide zum GdB und zu Merkzeichen.
Die Behörde prüft dabei den damaligen Sach- und Rechtsstand – nicht den heutigen. Wichtig: Geldleistungen können regelmäßig nur für maximal vier Jahre rückwirkend nachgezahlt werden.
Bei reinen Feststellungen (z. B. GdB, Merkzeichen) ist die rückwirkende Feststellung demgegenüber möglich, wenn die gesundheitlichen Voraussetzungen bereits damals vorlagen und dies nachweisbar ist.
Rückwirkung konkret: GdB, Merkzeichen, Steuern & Co.
Eine rückwirkende GdB- oder Merkzeichen-Feststellung ist vor allem dann wertvoll, wenn daran Nachteilsausgleiche hängen.
Dazu zählen insbesondere steuerliche Vorteile (Behinderten-Pauschbetrag, außergewöhnliche Belastungen), kraftfahrzeugsteuerrechtliche Vergünstigungen sowie Ermäßigungen und Nachteilsausgleiche im Alltag (z. B. ÖPNV-Freifahrt mit Wertmarke, Parkerleichterungen bei aG/B/G, Zusatzurlaub und besonderer Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis).
Nicht alles wirkt jedoch automatisch rückwärts. Entscheidend ist, welche Leistung betroffen ist und welches Gesetz die Rückwirkung zulässt.
Schneller Überblick
| Bereich | Rückwirkung möglich? / Besonderheiten |
| GdB-Feststellung | Ja. Rückwirkende Feststellung denkbar, wenn medizinisch belegt (Befunde, Arztberichte) und der Gesundheitszustand bereits damals die entsprechende Bewertung rechtfertigte. |
| Merkzeichen (z. B. G, aG, H, Bl, RF) | Ja, grundsätzlich. Voraussetzung: die jeweiligen gesundheitlichen Kriterien waren im beantragten Zeitraum erfüllt. Praktischer Nutzen variiert, da manche Nachteilsausgleiche nur für die Zukunftgewährt/erstattet werden. |
| Steuern (Behinderten-Pauschbetrag, Kfz-Steuervergünstigungen) | Oft ja. Der Feststellungsbescheid (GdB/Merkzeichen) fungiert als Grundlagenbescheid; steuerliche Vorteile können bei offener Steuerfestsetzung nachträglich berücksichtigt werden. Grenzen: Festsetzungsverjährung beachten. |
| Geldleistungen aus dem Sozialrecht | Begrenzt. Vierjahresfrist: Nachzahlungen maximal für die letzten vier Jahre (gerechnet ab Jahresbeginn des Antragsjahres). |
| Arbeitsrechtliche Schutzrechte (z. B. besonderer Kündigungsschutz, Zusatzurlaub) | Eher prospektiv. Wirken grundsätzlich für die Zukunft ab Feststellung/Anzeige der Schwerbehinderung gegenüber dem Arbeitgeber. |
Überprüfungsantrag oder Neufeststellung – was ist der richtige Weg?
Der Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X ist der richtige Weg, wenn der frühere Bescheid bereits bei Erlass fehlerhaft war – etwa weil medizinische Befunde ignoriert wurden oder die Versorgungsmedizin-Verordnung falsch angewandt wurde.
Ziel ist dann die Rücknahme des Alt-Bescheids und eine rückwirkende, oft höhere Feststellung. Demgegenüber kommt ein Neufeststellungs- bzw. Änderungsantrag infrage, wenn sich der Gesundheitszustand erst später verschlechtert hat oder neue Leiden hinzugekommen sind; seine Wirkung entfaltet sich grundsätzlich ab Antragstellung in die Zukunft, ohne Rückgriff auf die Vergangenheit.
Praxis-Tipp: Wer unsicher ist, kann beides kombinieren – Überprüfung für die Vergangenheit und Neufeststellung für Gegenwart und Zukunft.
Fristen, Nachweise, Taktik
Es gibt keine starre Antragsfrist: Ein Überprüfungsantrag ist grundsätzlich zeitlich unbegrenzt möglich, für Geldleistungen gilt jedoch die Vierjahresgrenze.
Maßgeblich für diese Rechenregel ist der Beginn des Jahres, in dem der Antrag eingeht; von dort werden vier Jahre rückwärts betrachtet – ältere Zeiträume bleiben bei Geldleistungen außen vor.
Für eine rückwirkende GdB- oder Merkzeichen-Feststellung sind zeitnahe medizinische Belege entscheidend, etwa Arztbriefe, Reha- oder Klinikberichte, Diagnosen und Befundberichte; je näher die Nachweise am strittigen Zeitraum liegen, desto besser.
Im Antrag sollte der Zielzeitraum klar benannt werden – also ab welchem Datum GdB oder Merkzeichen rückwirkend gelten sollen – und dies kurz begründet sowie mit Beweismitteln untermauert werden.
Lehnt die Behörde ab, stehen Widerspruch und anschließend Klage vor dem Sozialgericht offen; gerade bei Rückwirkungsfragen kommt es häufig auf die Versorgungsmedizin-Verordnung und eine saubere medizinische Substantiierung an.
Steuern: So sichern Sie sich rückwirkende Vorteile
Wird der GdB später rückwirkend festgestellt oder erhöht, lassen sich in vielen Fällen Steuervorteile nachträglich geltend machen – etwa der Behinderten-Pauschbetrag (je nach GdB gestaffelt), Kfz-Steuervergünstigungen bei bestimmten Merkzeichen oder außergewöhnliche Belastungen. Praktisch bedeutet das:
Einkommensteuer: Für noch offene/beschwerdefähige Veranlagungszeiträume kann das Finanzamt den Bescheid ändern und den Pauschbetrag oder Mehraufwendungen berücksichtigen.
Festsetzungsverjährung beachten. Wer auf Nummer sicher gehen will, stellt parallel einen schlichten Änderungsantrag beim Finanzamt und verweist auf den (angekündigten) oder bereits vorliegenden Feststellungsbescheid mit Rückwirkungsdatum.
Kfz-Steuer: Liegen die entsprechenden Merkzeichen (z. B. H, Bl oder aG) rückwirkend vor, kommen auch steuerliche Vergünstigungen rückwirkend in Betracht. Hier gilt: Bescheid und Zeitraum exakt benennen, Erstattungsantrag stellen.
Häufige Missverständnisse
„Rückwirkung heißt: alles wird nachgezahlt.“ – Falsch. Feststellungen (GdB/Merkzeichen) können rückwirkend sein; Geldleistungen aber regelmäßig nur vier Jahre.
„Ohne alte Befunde geht’s trotzdem.“ – Meist nein. Die Rückwirkung lebt von medizinischer Dokumentation. Wer keine Unterlagen hat, sollte Behandler um Aktenauszüge bitten.
„Ich muss warten, bis ich neue Befunde habe.“ – Nicht zwingend. Antrag jetzt stellen, Belege nachreichen – so sichert man früh den Rückwirkungszeitraum.
Fazit
Der Überprüfungsantrag ist ein starkes Werkzeug gegen zu niedrige oder fehlerhafte GdB-Bescheide. Wer früh handelt, den Zielzeitraum klar bezeichnet und medizinisch sauber belegt, kann nicht nur den GdB und Merkzeichen korrigieren, sondern häufig auch rückwirkende Vorteile sichern – insbesondere bei Steuern. Entscheidend sind Taktik, Timing und Unterlagen.




