100 000 Zwangs- Umzüge für ALG 2 Empfänger?

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Zwangsumzug bei Hartz IV

Ungefähr 500.000 ALG 2 Bezieher/innen werden nach Mitteilung des Mieterbundes so genannte "Aufforderungen zur Wohnkostenanpassung" erhalten. Den Betroffenen bleiben dann nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie bezahlen die Mehrkosten aus eigener Tasche, oder sie suchen nach einer "angemessenen" Wohnung. Da diese z.B. aufgrund kommunaler Privatisierungen in dem Maße gar nicht vorhanden sind, wird es nach Schätzungen des Mieterbundes zu 100.000 Zwangsumzügen kommen.

Doch damit nicht genug: Irene Bauerschmidt, Hartz 4 Beraterin beim Diakonischen Werk, richtet weitere Vorwürfe an die Agentur für Arbeit (Arge): Die Umzugsaufforderungen ergingen oft "ohne vorheriges Gespräch", und von der Arge vorgestreckte Miet-Kautionen würden nicht bis zum Auszug gestundet, sondern müssten widerrechtlich vom knappen Arbeitslosengeld zurückgezahlt werden. Zudem übernehme die Arge keine Doppelmieten bei Zwangsumzug, sondern akzeptiere nur passgenaue Wohnungswechsel. Das sei, so Bauerschmidt, "fern ab von jeder Realität.

Sozialverbände machen mobil

Ein bundesweites »Aktionsbündnis Sozialproteste« macht Front gegen Zwangsumzüge. Beratungsbüro in Berlin. Ein Gespräch mit Peter Grottian

* Peter Grottian ist Professor an der Freien Universität Berlin und arbeitet im Berliner Sozialforum sowie im bundesweiten Aktionsbündnis Sozialproteste mit

F: In einigen Regionen werden ALG-II-Empfänger zum Umzug in kleinere und billigere Wohnungen gezwungen. Wie verbreitet ist diese Praxis?

Genau weiß das zur Zeit niemand, und die Schätzungen gehen weit auseinander. Ungefähr 700000 ALG 2 Haushalte wohnen nach den Kriterien der entsprechenden Hartz 4 Gesetze »unangemessen«. Das wären also eine bis 1,2 Millionen Menschen, die in die Überprüfungsverfahren einbezogen werden. Wie viele von diesen umziehen müssen, weiß bisher niemand, aber ich glaube, die Zahl von 300000 bis 500000 Zwangsumzügen ist realistisch.

F: Überprüfungsverfahren gibt es überall?

Ja, aber von Kommune zu Kommune gibt es unterschiedliche Obergrenzen und Ausnahmeregelungen. Einige Jobcenter sind ausgesprochen großzügig, andere äußerst kleinkariert, bürokratisch und zynisch. Denn im Grunde handelt es sich ja um ein wahnwitziges Instrumentarium. Nach der Enteignung bei den Einkommen gibt es nun auch noch eine Enteignung der Wohnungen.

F: Welche Erfahrungen haben Sie in Berlin gemacht?

Nach den neuesten Meldungen gibt es aufgrund einer Stichprobe von 5000 Akten angeblich eine Entwarnung. Es sei nämlich herausgekommen, daß nur 0,5 Prozent der ALG 2 Bezieher entsprechende Bescheide von den Jobcentern bekommen können. Eine Reihe von Berliner Experten zweifelt das an, denn das würde heißen, daß in einem Bezirk wie Friedrichshain-Kreuzberg nur 180 Fälle auftreten. Wir halten das für eine geschönte Darstellung, der wir nicht trauen. Es gibt seriöse Berechnungen des TOPOS-Instituts für Stadtplanung und Stadtforschung, nach denen in Berlin 35000 bis 45000 Haushalte in das Überprüfungsverfahren einbezogen werden. Wie viele davon dann zum Umziehen gezwungen werden, kann im Moment niemand sagen.

F: Was die bundesweite Situation angeht, werden die lokalen Initiativen aufgefordert, Informationen an ein von Ihnen mitgegründetes Aktionsbündnis zu schicken. Was ist mit diesen geplant?

Die große Koalition setzt im Sozialen die brutale Politik der Vorgängerregierung fort, und ein Ausdruck davon sind diese Zwangsumzüge. Aber im Gegensatz zu den Zeiten, als Wolfgang Clement Hartz 4 durchgesetzt hat, ist die neue Regierung etwas geschickter. Die Konflikte werden besser verpackt oder tauchen nur lokal auf, wie es zum Beispiel bei den Zwangsumzügen der Fall ist. Die sind zwar in den Städten und Regionen ein Thema, aber bundesweit gibt es keine Debatte über diese Maßnahmen. Deshalb wollen wir am 20. März mit einer öffentlichen Präsentation für die Medien den Versuch machen, das Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Es werden Vertreter von Initiativen aus Hamburg, Duisburg, Oberhausen, Leipzig und Berlin kommen, um über die Situation in ihren Städten zu berichten. Wir verbinden mit dieser Aktion natürlich bestimmte Forderungen, wie die nach Erhöhung der Regelsätze und dem Stopp der Zwangsumzüge.

Man muß sich eine Zahl vor Augen halten: Experten gehen davon aus, daß etwas 300000 ALG-II-Haushalte im Schnitt 50 Euro »zu teuer« wohnen. Das summiert sich auf lediglich 180 Millionen Euro im Jahr. Daran sieht man, daß es nicht um Sozialpolitik, sondern um Disziplinierung geht. Die Menschen sollen weichgekocht werden. Darüber gibt es zwar in Städten wie etwa Köln eine Debatte, aber nicht bundesweit. Es wird also nicht als Politik der großen Koalition wahrgenommen, sondern als lokales oder sogar nur individuelles Problem. Die Bundesregierung hat für die nächsten vier Jahre ein Verarmungsprogramm verabschiedet, das die Einkommen um weitere 15 Prozent senken wird, und sie sattelt auf den ganzen »Hartz-IV«-Wahnsinn mit den Zwangsumzügen noch einen drauf. Wir wollen mit unseren Aktionen dafür sorgen, daß dieser Zusammenhang in der bundespolitischen Debatte deutlicher wird.

F: Mitte Februar fand in Berlin ein Treffen der »Kampagne gegen Zwangsumzüge« statt. Was wurde vereinbart?

Wir haben inzwischen einen breiten Diskussionszusammenhang von gewerkschaftlichen Initiativen, Anti Hartz 4 Gruppen und so weiter. Daraus entstand die Idee, eine bundesweite Kampagne zu starten. In Berlin wollen wir zum Beispiel ein Beratungslokal aufbauen und ein kostenloses Beratungstelefon einrichten, mit dem kompetente individuelle Hilfe angeboten werden soll. Natürlich soll es auch als Anlaufstelle für Menschen dienen, die sich politisch einmischen wollen.

Ein wichtiger Punkt der Kampagne gegen Zwangsumzüge wird auf jeden Fall die Beteiligung an der bundesweiten Demonstration gegen Sozialabbau am 3. Juni werden.

Interview: Wolfgang Pomrehn

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