Der Fall von Bernd, Jahrgang 1963, wirkt auf den ersten Blick unspektakulär und ist doch hochaktuell. Der 62-Jährige steht – wie viele Beschäftigte aus den geburtenstarken Jahrgängen – vor einem komplexen Spagat zwischen Sozialversicherungssystemen.
Einerseits hat er im kommenden Jahr die begehrte 45-jährige Versicherungszeit voll, die ihm eine abschlagsfreie „Altersrente für besonders langjährig Versicherte“ sichert.
Andererseits möchte er die verbleibenden gut anderthalb Jahre bis zum regulären Rentenbeginn von 64 Jahren und 10 Monaten nicht mehr arbeiten, sondern mittels Arbeitslosengeld I überbrücken.
Wer darf wann in das Arbeitslosengeld wechseln, um eine Rente mit Abschlägen zu vermeiden? Welche Stolperfallen lauern rund um Sperr- und Ruhenszeiten? Und kann die Agentur für Arbeit ältere Versicherte zum vorzeitigen Renteneintritt drängen?
Die „45er-Rente“: Privileg mit Bedingungen
Seit 2014 ermöglicht § 236b SGB VI den abschlagsfreien Ruhestand nach 45 Jahren anrechenbarer Zeiten. Für den Jahrgang 1963 liegt die Altersgrenze bei 64 Jahren und 10 Monaten – zwei Monate höher als noch für den Jahrgang 1962.
Wichtig für die Rente ist nicht nur klassische Erwerbsarbeit: Auch Kindererziehungszeiten, längere Krankengeld-Phasen und sogar Phasen des Arbeitslosengeldbezuges können mitzählen.
Erst in den letzten 24 Kalendermonaten vor Rentenbeginn greift eine relevante Einschränkung: Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld können zwar weiter Rentenbeiträge gutgeschrieben bekommen, doch diese Zeit erhöht das 45-Jahres-Konto nicht mehr. Für Bernt bleibt das folgenlos, weil er seine Wartezeit bereits am 63. Geburtstag erfüllt.
Zwei Jahre Arbeitslosengeld – aber nicht um jeden Preis
Das Arbeitsförderungsrecht stellt Versicherungstreue in den Mittelpunkt. Wer – wie Bernd – in den letzten fünf Jahren mindestens 24 Monate pflichtversichert gearbeitet hat, erwirbt einen maximalen Anspruch von 24 Monaten Arbeitslosengeld.
Bei Arbeitslosengeldversicherten, die bei Eintritt der Arbeitslosigkeit 58 Jahre oder älter sind, schöpft das Gesetz damit sein Limit aus. In der Praxis reicht dieser Zeitraum für die meisten „Brücken-Planer“ aus, um die Spanne bis zur abschlagsfreien Rente abzudecken.
Komplizierter wird es, wenn der Job freiwillig aufgegeben wird. Eine eigenhändige Kündigung löst in aller Regel eine zwölfwöchige Sperrzeit (§ 159 SGB III) aus.
Zusätzlich kürzt die Agentur für Arbeit die Bezugsdauer um mindestens ein Viertel. Aus zwei Jahren könnten so gerade einmal 18 Monate werden – im Extremfall sogar weniger, wenn weitere Sanktionen hinzukommen.
Wer sich mit dem Arbeitgeber auf einen Aufhebungsvertrag einigt, vermeidet zwar häufig den Makel der „Eigenkündigung“, muss aber mit einer Anrechnung der Abfindung rechnen: Sie kann ein Ruhen des Arbeitslosengeldes auslösen, weil das Gesetz davon ausgeht, dass die Entschädigung für entgangenen Lohn bestimmt ist.
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Kündigungsgründe und ihre Wirkung
Im Fall von Bernd führt eine betriebsärztlich bestätigte gesundheitliche Einschränkung zur arbeitgeberseitigen Kündigung. Dadurch entfällt die Sperrzeit, das Arbeitslosengeld kann nahtlos fließen und das Limit von 24 Monaten bleibt ungekürzt.
Dennoch lohnt es sich, offen über Abfindungen, Resturlaubsabgeltungen und mögliche Krankengeldzeiten zu sprechen. Jede Komponente kann den Leistungsbeginn oder die -dauer beeinflussen. Experten raten deshalb, rechtzeitig individuelle Beratung einzuholen, bevor Verträge unterzeichnet werden.
Pflicht zur Arbeitsmarktverfügbarkeit – auch kurz vor der Rente
Der Bezug von Arbeitslosengeld ist rechtlich kein verkappter Vorruhestand, sondern eine beitragsfinanzierte Versicherungsleistung. Versicherte müssen sich grundsätzlich dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen, Bewerbungen schreiben, Vermittlungsvorschläge prüfen und an Qualifizierungsmaßnahmen teilnehmen.
In der Praxis wissen Arbeitsvermittlerinnen und -vermittler, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit bei Menschen Anfang 60 gering ist. Trotzdem können sie Teilnahme an Bewerbungstrainings oder kurzen Qualifizierungen verlangen. Wer sich verweigert, riskiert Sperrzeiten und damit Einbußen.
Kein Zwang zur Rente – ein Missverständnis
Hartnäckig hält sich der Irrglaube, die Arbeitsagentur könne ältere Arbeitslose in die vorzeitige Altersrente drängen. Tatsächlich gab es im Bürgergel (vormals Hartz IV) bis 2022 eine Regelung, die unter bestimmten Bedingungen eine „Zwangsverrentung“ ermöglichte.
Für das beitragsfinanzierte Arbeitslosengeld I gilt das jedoch nicht. Haben Versicherte Anspruch auf die Leistung, dürfen sie sie ausschöpfen, solange sie ihre Mitwirkungspflichten erfüllen und noch keine Rente beziehen.
Fazit: Sorgfältige Planung sichert den nahtlosen Übergang
Bernd steht exemplarisch für Tausende Beschäftigte, die den letzten Abschnitt ihres Erwerbslebens strategisch planen. Sein Vorhaben ist rechtlich möglich, sofern keine Sperr- oder Ruhenszeiten eintreten.
Dabei entscheidet die Art der Beendigung des Arbeitsverhältnisses über viel Geld. Gleichzeitig bleibt er verpflichtet, zumindest formal dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen, ehe er mit 64 Jahren und 10 Monaten ohne Abschläge in die Altersrente wechselt.
Für Betroffene ist der Dreh- und Angelpunkt eine frühzeitige, individuelle Beratung: Arbeitsrechtliche Details rund um Kündigung oder Aufhebungsvertrag, sozialversicherungsrechtliche Fragen zum Arbeitslosengeld und rentenrechtliche Besonderheiten greifen ineinander. Nur wer das Gesamtbild kennt, vermeidet finanzielle Verluste und stellt einen reibungslosen Übergang sicher.