Hartz IV: So hat die Bundesregierung getrickst

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Hartz IV: So haben Leyen, Merkel und Westerwelle beim Regelsatz getrickst.

(28.09.2010) SPD, Linke, Grüne und Sozialverbände sprechen von Betrug und Trickserei bei der Berechnung der neuen Hartz IV-Regelsätze. Stimmt das? Wir haben uns die Unterlagen, welche das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) auf seiner Internetseite u.a. zur Auswertung der EVS 2008 zur Verfügung stellt, näher angesehen.

Trick 1:
In der vom BMAS veröffentlichten Auswertung der EVS 2008 wird zwischen Ausgaben für Erwachsene und Kinder getrennt, um die Kinderregelsätze zu ermitteln. Die EVS 2008 ermöglicht diese Trennung jedoch gar nicht, denn die Ausgaben werden nicht altersspezifisch erfasst, sondern in der jeweiligen Abteilung (z.B. Nahrungsmittel) als Gesamtbetrag. D.h. das BMAS muss nach einer, bisher geheim gehaltenen, Formel diesen Gesamtbetrag anteilig auf Eltern und Kinder aufgeteilt haben. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat jedoch unmissverständlich die eigenständige Erfassung des spezifischen Bedarfes von Kindern verlangt.

Ob nun der Kindesbedarf prozentual vom Regelsatz eines Erwachsenen, oder prozentual von den Ausgaben einer Familie abgeleitet wird, beides entspricht nicht den Vorgaben des BVerfG und ist damit verfassungswidrig. Die Höhe der Kinderregelsätze ist somit weiterhin rein willkürlich festgelegt und nicht anhand des individuellen Bedarfes von Kindern. Im Ergebnis dieser geheimnisvollen Rechnerei sind die Hartz IV Kinderregelsätze, je nach Alter, sogar um bis zu 11 Euro gesunken und werden nur aufgrund einer Festlegung im geplanten Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz nicht abgesenkt.

Trick 2:
Bei der Ermittlung des Regelsatzes für Alleinstehende/-erziehende wurden nicht mehr die Ausgaben der unteren 20% der Bevölkerung, sondern nur noch der unteren 15% der Bevölkerung ohne Sozialleistungsbezieher nach SGB II und XII berücksichtigt. Das bedeutet eine erhebliche Verringerung der zur Berechnung des Regelsatzes herangezogenen Ausgaben und damit des Regelsatzes selbst.

Damit beträgt die Teuerungsrate (Ausgabenhöhe) gegenüber der EVS 2003 nur 9,05%. Zum Vergleich: das statistische Bundesamt weist für den Zeitraum 2004 bis 2008 eine allgemeine Preissteigerung von 10,08% aus, die aber nicht 1:1 auf die Gruppe untersten 20% der Haushalte übertragbar ist, da sie auch in erheblichem Umfang Ausgaben beinhaltet, die diese Gruppe nicht hat, die aber die Preissteigerungsrate erheblich beeinflusst, z.B. Immobilienpreise oder Preise für Luxusgüter, die in diesem Zeitraum nachweislich massiv gesunken sind. Die Preissteigerungsrate für die untersten 20% der Haushalte liegt also deutlich höher als 10,08%, da dort diese Absenkungseffekte nicht greifen.

Offenbar hat die Bundesregierung die Kinderregelsätze abgeleitet, indem sie, vereinfacht ausgedrückt, 2x 90% (analog zu den Partnerregelsätzen des SGB II) der in der EVS 2008 erhobenen Ausgaben von Alleinstehenden bei den Gesamtausgaben der Familien als Elternanteil angesetzt hat. Die Differenz zu den Gesamtausgaben der Familie sind dann die Kinderausgaben.
Einen Ausreißer gibt es bei der Anwendung dieser Theorie nur bei Haushalten mit 1 Kind von 6 bis unter 14 Jahren, dort wurde vermutlich etwas hin-und-her gerechnet, um den Kinderanteil, der sonst deutlich höher wäre, auf die aktuellen 70% zu drücken, wozu zwangsläufig die Ausgabenanteile für die Eltern erhöht werden mussten.
Die prozentual anteilige Ableitung der Kinderregelsätze von denen Erwachsener wurde also, statt wie bisher im SGB II, schon in der Auswertung der EVS 2008 vorgenommen.

Trick 3:
Dieser Trick ist sehr schwer zu erkennen, da das BMAS – anders als in der EVS 2003 – keine Angaben dazu liefert, welche in der EVS erfassten Ausgaben denn nun in welchem Umfang in den Regelsatz eingeflossen sind und welche nicht, oder warum gekürzt wurde. Ebenfalls fehlt eine Gegenüberstellung mit der EVS 2003. Soviel zur vom BVerfG geforderten Nachvollziehbarkeit und Transparenz, diese besteht tatsächlich nicht, was zweifelsohne gewollt ist, damit die Tricksereien nicht nachvollzogen werden können und somit nicht auffallen.

Die nachfolgenden Angaben basieren auf der Auswertung der EVS 2008 für Alleinstehende, da die Angaben in der Auswertung der EVS 2008 für Familien aufgrund der nicht nachvollziehbaren Ausgabenaufteilung zwischen Erwachsenen und Kindern keine korrekten und nachprüfbaren Daten beinhalten.

Abteilung 1 und 2 (Nahrungsmittel, Getränke, Tabakwaren)
In der EVS 2003 wurden diese Ausgaben noch mit 96% berücksichtigt, in der EVS 2008 nur noch mit 88,8%, d.h. alkoholische Getränke und Tabakwaren werden nicht mehr berücksichtigt, das entspricht einer Regelsatzverringerung um 10,41 Euro.

Abteilung 3 (Bekleidung und Schuhe)
In der EVS 2003 wurden diese Ausgaben noch mit 99,97% berücksichtigt, in der EVS 2008 nur noch mit 96,14%, das entspricht einer Regelsatzverringerung um 1,21 Euro.

Abteilung 4 (Wohnen, Energie und Wohnungsinstandhaltung)
In der EVS 2003 wurden diese Ausgaben mit 7,5985% berücksichtigt, in der EVS 2008 mit 8,1675%, das entspricht einer Regelsatzerhöhung um 2,11 Euro. Diese Erhöhung gleicht nicht mal ansatzweise die Verdoppelung der Strompreise gegenüber 2005 aus, die bundesweit zu erheblichen Stromschulden bei ALG II-Empfänger geführt hat und noch immer führt, da der im Regelsatz enthalten Betrag für Haushaltstrom die tatsächlichen Kosten nicht mal annährend deckt.

Abteilung 5 (Innenausstattung, Haushaltsgeräte und -gegenstände)
In der EVS 2003 wurden diese Ausgaben mit 91,0742% berücksichtigt, in der EVS 2008 mit 93,3583%, das entspricht einer Regelsatzerhöhung um 0,67 Euro.

Abteilung 6 (Gesundheitspflege)
In der EVS 2003 wurden diese Ausgaben noch mit 70,6839% berücksichtigt, in der EVS 2008 nur noch mit 57,6703%, das entspricht einer Regelsatzverringerung um 3,42 Euro. Das trotz der erheblichen Kürzung dieser Ausgaben angeblich der Praxisbeitrag erhöhend berücksichtigt wurde, entpuppt sich dabei als unverschämte Lüge von Leyen, Merkel und Westerwelle.

Abteilung 7 (Verkehr)
In der EVS 2003 wurden diese Ausgaben mit 26,4656 % berücksichtigt, in der EVS 2008 mit 38,4408 %, das entspricht einer Regelsatzerhöhung um 7,10 Euro.

Abteilung 8 (Nachrichtenübermittlung)
In der EVS 2003 wurden diese Ausgaben mit 75,2294% berücksichtigt, in der EVS 2008 mit 82,2228%, das entspricht einer Regelsatzerhöhung um 2,72 Euro. Das damit zusätzlich die monatlichen Kosten für Internet gedeckt sein sollen, dürfte damit widerlegt sein, denn es gibt definitiv keinen Internetzugang für 2,72 Euro pro Monat.

Abteilung 9 (Freizeit, Unterhaltung, Kultur)
In der EVS 2003 wurden diese Ausgaben noch mit 54,8690% berücksichtigt, in der EVS 2008 nur noch mit 52,9833%, das entspricht einer Regelsatzverringerung um 1,42 Euro.

Abteilung 10 (Bildung)
In der EVS 2003 wurden diese Ausgaben nicht berücksichtigt. In der EVS 2008 sind sie mit 7,94 Euro enthalten, davon wurden 17,5063% als regelsatzrelevanter Anteil übernommen, das entspricht einer Regelsatzerhöhung um 1,39 Euro.

Abteilung 11 (Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen)
In der EVS 2003 wurden diese Ausgaben noch mit 29,2513% berücksichtigt, in der EVS 2008 nur noch mit 25,4714%, das entspricht einer Regelsatzverringerung um 1,06 Euro.

Abteilung 12 (Andere Waren und Dienstleistungen)
In der EVS 2003 wurden diese Ausgaben mit 67,0526% berücksichtigt, in der EVS 2008 mit 84,2607%, das entspricht einer Regelsatzerhöhung um 5,41 Euro.

Im Ergebnis beträgt der so hingerechnete Regelsatz für Alleinstehende/-erziehende monatlich 361,81 Euro, gönnerhaft aufgerundet 364 Euro. Durch diese neuen Tricksereien wurde die Ausgabenerhöhung nochmals deutlich verringert, so dass der Regelsatz gegenüber 2005 nicht um, die nach Trick 3 noch verbleibenden, 9,05% steigt, sondern nur um 5,5%.Bei einigen Positionen wurden regelsatzrelevante Anteile sehr leicht erhöht, dafür andere deutlich verringert. Im Ergebnis verändert sich der Regelsatz kaum.

Gerade im Bereich Gesundheitspflege wurde massiv gekürzt, soviel zu anders lautenden Behauptungen aus Regierungskreisen.
Die prozentualen Anteile der regelsatzrelevanten Ausgaben ähneln zudem denen der von der SPD damals verwendeten auffällig, vermutlich wurden diese einfach 1:1 übernommen und danach etwas daran „gedreht“. Das bedeutet nichts anders, als dass sich Leyen, Merkel und Westerwelle derselben Tricks bedient haben, als seinerzeit die SPD, also u.a. Abzüge für Pelzmäntel, Segelflugzeuge und Boote – Ausgaben, die in den unteren 20%, bzw. hier nur noch 15%, der Bevölkerung gar nicht vorkommen und die das BVerfG deshalb als verfassungswidrig erklärt hat. Man hätte von Leyen, Merkel und Westerwelle wirklich etwas mehr Fantasie erwarten können.

Fazit
Diese Regelsatzberechnung ist genau so „korrekt“ wie die damals von der SPD vorgenommene und vom BVerfG als verfassungswidrig bemängelte. Über die Höhe der Regelsätze und darüber, ob und in welchem Umfang eine Erhöhung derselben vorzunehmen ist, hat die Bundesregierung nicht zu befinden. Sie hat das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht zu respektieren und darüber hinaus die Pflicht, das Ergebnis, welches bei einer transparenten und korrekten Berechnung der Regelsätze heraus kommt, umzusetzen. Das alles hat die Bundesregierung nicht getan.

Die Bundesregierung, resp. CDU/CSU und FDP, haben weder den individuellen Bedarf für Kinder ermittelt, noch die Regelsätze für Kinder darauf basierend berechnet, geschweige denn, die Regelsätze für Erwachsene transparent und korrekt berechnet.
Damit haben CDU/CSU und FDP eindeutig gegen das Urteil des BVerfG vom Februar 2010 verstoßen. Die Hartz IV Regelsätze sind nach wie vor verfassungswidrig. (fm)

Gegenüberstellung EVS 2003-2008.xls

Ist das Bürgergeld besser als Hartz IV?

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