Grundsatzurteil für Schwerbehinderte: Keine pauschalen sondern bedarfsgerechte Leistungen

Lesedauer 2 Minuten

Ein Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts verpflichtet Träger der Eingliederungshilfe, die Kosten notwendiger Heimfahrten in dem Umfang zu übernehmen, den der individuelle Bedarf einer behinderten Person erfordert.

Das Urteil  (Az. B 8 SO 10/23 R) hat weitreichende Folgen für Einrichtungen, Sozialverwaltungen und nicht zuletzt für schwerbehinderte Menschen selbst.

Was war der Anlass des Rechtsstreits?

Der Kläger, ein schwerbehinderter Mann aus dem Raum Hildesheim, lebt dauerhaft in einer besonderen Wohnform der Eingliederungshilfe.

Um seine Eltern regelmäßig zu besuchen, beantragte er die Finanzierung von zwei Heimfahrten pro Monat.

Eine einfache Hin‑ und Rückfahrt mit dem Fahrdienst kostete 432 Euro. Der zuständige Landkreis bewilligte jedoch lediglich eine Fahrt pro Monat und begrenzte die Leistung pauschal auf zwölf Fahrten im Jahr.

Bundessozialgericht entschied zugunsten des Klägers

Das BSG wertete Besuchsbeihilfen als eigenständige Leistung der sozialen Teilhabe nach § 115 SGB IX (bis Ende 2017: § 54 Abs. 2 SGB XII). Ziel dieser Leistung sei der Erhalt enger familiärer Bindungen.

Über die Häufigkeit von Heimfahrten könne daher nicht schematisch entschieden werden; maßgeblich seien ausschließlich die individuellen gesundheitlichen, sozialen und örtlichen Gegebenheiten der berechtigten Person. Das Gericht stellte klar, dass dieser bedarfsbezogene Prüfmaßstab sowohl für das alte als auch für das seit 2020 geltende Eingliederungshilferecht gilt.

§ 115 enthält nur einen einzigen Satz: Werden Leistungen „über Tag und Nacht“ erbracht, können Besuchsbeihilfen gewährt werden, soweit dies „im Einzelfall erforderlich“ ist. Gerade dieses offene Tatbestandsmerkmal verleiht dem Gesetz einen strikt personenorientierten Charakter.

Das BSG betont, dass die Norm nicht nur den Anlass der Leistung – gegenseitige Besuche – definiert, sondern zugleich einen Rechtsanspruch begründet, sobald die Erforderlichkeit konkret feststeht. Ein Ermessensspielraum reduziert sich damit auf Null.

Pauschale Monatsfahrt reicht nicht aus

Vorinstanzlich hatte das Landessozialgericht Celle festgestellt, dass der Kläger für sein seelisches Gleichgewicht auf häufigere Besuche angewiesen sei und aus gesundheitlichen Gründen zwingend einen Fahrdienst benötige.

Diese Feststellungen waren für das BSG bindend. Pauschale Begrenzungen widersprächen dem Teilhabeprinzip, weil sie die medizinisch und sozial begründete Notwendigkeit zusätzlicher Fahrten ignorierten.

Welche Konsequenzen ergeben sich für Sozialleistungsträger?

Sozialämter und Kommunen müssen künftige Anträge auf Besuchsbeihilfen einzelfallbezogen prüfen. Das Urteil unterstreicht, dass Kostenübernahmen weder durch örtliche Richtlinien noch durch Haushaltserwägungen gedeckelt werden dürfen, wenn ein höherer Bedarf nachgewiesen ist.

Träger werden ihre Bewilligungspraxis anpassen und gegebenenfalls interne Verwaltungsvorschriften überarbeiten müssen. Fachjuristen erwarten, dass zahlreiche bereits abgelehnte oder gekürzte Anträge nun erneut gestellt werden.

Lesen Sie auch:

– Schwerbehinderung: Anrecht auf Nachteilsausgleiche beim Wohnen im Jahr 2025

Welche Bedeutung hat das Urteil für Bewohnerinnen und Bewohner von Einrichtungen?

Für Menschen, die in besonderen Wohnformen leben, verbessert sich die Chance, familiäre Beziehungen lebendig zu halten. Gerade bei großen Entfernungen oder hohem Pflegebedarf waren Heimfahrten bislang oft an strikte Kilometer‑ oder Monatsgrenzen geknüpft.

Das BSG macht deutlich, dass Teilhabe am Familienleben integraler Bestandteil des Rechts auf selbstbestimmte Lebensführung ist – ein Grundgedanke, den auch die UN‑Behindertenrechtskonvention schützt.

Wie reagieren Verbände und Fachwelt?

Behindertenverbände begrüßen die Entscheidung als „lange überfälligen Schritt“, weil sie Hilfebedürftige nicht mehr in einen pauschalen Rahmen zwinge, sondern ihre Lebenswirklichkeit anerkenne.

Sozialrechts‑Experten weisen zugleich darauf hin, dass der Verweis auf den Einzelfall Spielraum lässt, den Träger weiterhin restriktiv auslegen könnten. Sie empfehlen Betroffenen, Bedarfe detailliert ärztlich oder psychologisch begründen zu lassen und Teilhabeziele explizit in den Gesamtplan aufzunehmen.

Welche offenen Fragen bleiben?

Ungeklärt ist, wie mit Nebenkosten wie Verpflegung oder Begleitpersonen umzugehen ist und in welchem Verhältnis Besuchsbeihilfen zu Mobilitätsleistungen nach § 114 SGB IX stehen. Auch ist zu erwarten, dass Gerichte künftig häufiger über die angemessene Art des Transports – Fahrdienst, öffentlicher Nahverkehr oder private Fahrzeuge – entscheiden müssen.