Urteilsbegründung Hartz IV Regelsatzklage

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Regelleistungen nach SGB II ("Hartz IV- Gesetz") nicht verfassungsgemäß
Bundesverfassungsgericht urteilte: Berechnungsgrundlage Hartz-IV nicht Verfassungskonform

Zunächst eine kurze Zusammenfassung:

Die Berechnung des Eckregelsatzes für Erwachsene ist verfassungswidrig, weil der Gesetzgeber bei der Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 1998 und 2003 Abzüge vorgenommen hat, die bei der zugrunde gelegten Bevölkerungsgruppe: der Unteren 20% ohne Sozialhilfeempfänger, gar nicht vorkommen, oder nicht belegt werden konnten.
Konkret wurden die Kürzungen bei "Bekleidung und Schuhe" für Pelze und Maßkleidung, bei der "Haushaltenergie" für Strom (-15%), bei "Verkehr" wegen der Kosten für Kraftfahrzeuge, bei "Freizeit, Unterhaltung und Kultur" u.a. für Segelflugzeuge und beim "Bildungswesen" (-100% = kein Anspruch auf Bildung) bemängelt.

Die Festlegung der Regelsätze für Kinder ist verfassungswidrig, weil der Gesetzgeber gar keine Erhebungen zum Bedarf von Kindern vorgenommen, sondern den Regelsatz Erwachsener "freihändig" ohne Begründung um 40% gekürzt hat. Insbesondere fehlt es an einer differenzierten Untersuchung des individuellen Bedarfs von kleineren und größeren Kindern.

Der Schulbedarf nach § 24a SGB II wurde ebenfalls nicht ermittelt, sondern offensichtlich freihändig geschätzt und ist deshalb verfassungswidrig. Außerdem gehört dieser Bedarf zum Grundbedarf des Kindes, was einer Gewährung als Mehrbedarf widerspricht. Die Orientierung des Regelsatzes am Rentenwert ist verfassungswidrig, da sich der Regelsatz am tatsächlichen Bedarf orientieren muss.

Im SGB II fehlen Festlegungen zur Übernahme individueller atypischer Mehrbedarfe, die ebenfalls der Bedarfsdeckungspflicht unterliegen, was auch verfassungswidrig ist.

II.
Das BVerfG hat dem Gesetzgeber eine Frist bis zum 31 Dezember 2010 eingeräumt, die verfassungswidrigen Punkte verfassungskonform neu zu regeln, wobei die Neuregelung einer weiteren Kontrolle des BVerfG unterliegt.
Individuelle atypische Mehrbedarfe sind zudem ab sofort von der Bundesregierung zu übernehmen.

Die verfassungswidrigen Normen bleiben bis zu einer Neuregelung, die der Gesetzgeber bis zum 31. Dezember 2010 zu treffen hat, weiterhin anwendbar. Zu einer rückwirkenden Entscheidung ist der Gesetzgeber lt. Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG nicht verpflichtet.

III.
Das BVerfG führt weiter aus, dass es nicht feststellen konnte, dass der Eckregelsatz von 345€ evident (augenscheinlich) zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums Erwachsener nicht ausreichend sei. Es konnte ebenfalls nicht feststellen, dass der Regelsatz von 207€ evident (augenscheinlich) zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums für Kinder nicht ausreichend sei, insbesondere um den Ernährungsbedarf von Kindern im Alter von 7 bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres zu decken. Auch sieht es sie Absenkung des Regelsatzes bei Partnern als verfassungskonform an, da dort aufgrund des Zusammenlebens ein Minderbedarf vorliege. Es bedarf deshalb keiner sofortigen Erhöhung des Regelsatzes. Die bis zum 31 Dezember 2010 vorzunehmende Neuberechnung ist ausreichend.

Die Langfassung:
I. Sachverhalt

1. Das Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24. Dezember 2003 (sog. „Hartz IV-Gesetz“) führte mit Wirkung vom 1. Januar 2005 die bisherige Arbeitslosenhilfe und die bisherige Sozialhilfe im neu geschaffenen Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) in Form einer einheitlichen, bedürftigkeitsabhängigen Grundsicherung für Erwerbsfähige und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen zusammen. Danach erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige Arbeitslosengeld II und die mit ihnen in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden, nicht erwerbsfähigen Angehörigen, insbesondere Kinder vor Vollendung des 15. Lebensjahres, Sozialgeld. Diese Leistungen setzen sich im Wesentlichen aus der in den §§ 20 und 28 SGB II bestimmten Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts und Leistungen für Unterkunft und Heizung zusammen. Sie werden nur gewährt, wenn ausreichende eigene Mittel, insbesondere Einkommen oder Vermögen, nicht vorhanden sind. Die Regelleistung für Alleinstehende legte das SGB II zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens für die alten Länder einschließlich Berlin (Ost) auf 345 Euro fest. Die Regelleistung für die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft bestimmt es als prozentuale Anteile davon. Danach ergaben sich zum 1. Januar 2005 für Ehegatten, Lebenspartner und Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft ein Betrag von gerundet 311 Euro (90%), für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres ein Betrag von 207 Euro (60%) und für Kinder ab Beginn des 15. Lebensjahres ein Betrag von 276 Euro (80%).

Im Vergleich zu den Regelungen nach dem früheren Bundessozialhilfegesetz (BSHG) wird die Regelleistung nach dem SGB II weitgehend pauschaliert; eine Erhöhung für den Alltagsbedarf ist ausgeschlossen. Einmalige Beihilfen werden nur noch in Ausnahmefällen für einen besonderen Bedarf gewährt. Zur Deckung unregelmäßig wiederkehrenden Bedarfs ist die Regelleistung erhöht worden, damit Leistungsempfänger entsprechende Mittel ansparen können.

2. a) Bei der Festsetzung der Regelleistung hat sich der Gesetzgeber an das Sozialhilferecht, das seit dem 1. Januar 2005 im Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) geregelt wird, angelehnt. Nach dem SGB XII und der vom zuständigen Bundesministerium erlassenen Regelsatzverordnung erfolgt die Bemessung der sozialhilferechtlichen Regelsätze nach einem Statistikmodell, das bereits in ähnlicher Form unter der Geltung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) entwickelt worden war. Grundlage für die Bemessung der Regelsätze ist eine Sonderauswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe, die vom Statistischen Bundesamt alle fünf Jahre erhoben wird. Für die Bestimmung des Eckregelsatzes, der auch für Alleinstehende gilt, sind die in den einzelnen Abteilungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe erfassten Ausgaben der untersten 20% der nach ihrem Nettoeinkommen geschichteten Einpersonenhaushalte (unterstes Quintil) nach Herausnahme der Empfänger von Sozialhilfe maßgeblich. Diese Ausgaben gehen allerdings nicht vollständig, sondern als regelsatzrelevanter Verbrauch nur zu bestimmten Prozentanteilen in die Bemessung des Eckregelsatzes ein.

Die seit dem 1. Januar 2005 geltende Regelsatzverordnung fußt auf der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe aus dem Jahre 1998. Bei der Bestimmung des regelsatzrelevanten Verbrauchs in § 2 Abs. 2 Regelsatzverordnung wurde die Abteilung 10 der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (Bildungswesen) nicht berücksichtigt. Weiterhin erfolgten Abschläge unter anderem in der Abteilung 03 (Bekleidung und Schuhe) zum Beispiel für Pelze und Maßkleidung, in der Abteilung 04 (Wohnung etc.) bei der Ausgabenposition „Strom“, in der Abteilung 07 (Verkehr) wegen der Kosten für Kraftfahrzeuge und in der Abteilung 09 (Freizeit, Unterhaltung und Kultur) zum Beispiel für Segelflugzeuge. Der für das Jahr 1998 errechnete Betrag wurde nach den Regelungen, die für die jährliche Anpassung der Regelleistung nach dem SGB II und der Regelsätze nach dem SGB XII gelten, entsprechend der Entwicklung des aktuellen Rentenwertes in der gesetzlichen Rentenversicherung (vgl. § 68 SGB VI) auf den 1. Januar 2005 hochgerechnet.

b) Bei der Festsetzung der Regelleistung für Kinder wich der Gesetzgeber von den Prozentsätzen, die unter dem BSHG galten, ab und bildete nunmehr nur noch zwei Altersgruppen (0 bis 14 Jahre und 14 bis 18 Jahre). Eine Untersuchung des Ausgabeverhaltens von Ehepaaren mit einem Kind, wie sie unter dem BSHG erfolgt war, unterblieb zunächst.

3. Die Sonderauswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe aus dem Jahre 2003 führte zwar zum 1. Januar 2007 zu Änderungen beim regelsatzrelevanten Verbrauch gemäß § 2 Abs. 2 Regelsatzverordnung, jedoch nicht zu einer Erhöhung des Eckregelsatzes und der Regelleistung für Alleinstehende. Eine erneute Sonderauswertung bezogen auf das Ausgabeverhalten von Ehepaaren mit einem Kind veranlasste den Gesetzgeber zur Einführung einer dritten Alterstufe von haushaltsangehörigen Kindern im Alter von 6 Jahren bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres. Diese erhalten ab dem 1. Juli 2009 nach § 74 SGB II 70% der Regelleistung eines Alleinstehenden. Seit dem 1. August 2009 erhalten schulpflichtige Kinder nach Maßgabe von § 24a SGB II zudem zusätzliche Leistungen für die Schule in Höhe von 100 Euro pro Schuljahr.

4. Über eine Vorlage des Hessischen Landessozialgerichts (1 BvL 1/09) und über zwei Vorlagen des Bundessozialgerichts (1 BvL 3/09 und 1 BvL 4/09) zu der Frage, ob die Höhe der Regelleistung zur Sicherung des Lebensunterhalts für Erwachsene und Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres im Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis zum 30. Juni 2005 nach § 20 Abs. 1 bis 3 und nach § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 Alt. 1 SGB II mit dem Grundgesetz vereinbar ist, hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts am 20. Oktober 2009 verhandelt. Die diesen Vorlagen zugrundeliegenden Ausgangsverfahren sind in der Pressemitteilung zur mündlichen Verhandlung (Nr. 96/2009 vom 19. August 2009) im Einzelnen dargestellt.

II. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat entschieden, dass die Vorschriften des SGB II, die die Regelleistung für Erwachsene und Kinder betreffen, nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG erfüllen. Die Vorschriften bleiben bis zur Neuregelung, die der Gesetzgeber bis zum 31. Dezember 2010 zu treffen hat, weiter anwendbar. Der Gesetzgeber hat bei der Neuregelung auch einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherstellung eines unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen, besonderen Bedarfs für die nach § 7 SGB II Leistungsberechtigten vorzusehen, der bisher nicht von den Leistungen nach §§ 20 ff. SGB II erfasst wird, zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums jedoch zwingend zu decken ist. Bis zur Neuregelung durch den Gesetzgeber wird angeordnet, dass dieser Anspruch nach Maßgabe der Urteilsgründe unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG zu Lasten des Bundes geltend gemacht werden kann.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:

1. a) Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Der Umfang des verfassungsrechtlichen Leistungsanspruchs kann im Hinblick auf die Arten des Bedarfs und die dafür erforderlichen Mittel nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden. Die Konkretisierung obliegt dem Gesetzgeber, dem hierbei ein Gestaltungsspielraum zukommt.

Zur Konkretisierung des Anspruchs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen.

b) Dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der Bemessung des Existenzminimums entspricht eine zurückhaltende Kontrolle der einfachgesetzlichen Regelung durch das Bundesverfassungsgericht. Da das Grundgesetz selbst keine exakte Bezifferung des Anspruchs erlaubt, beschränkt sich bezogen auf das Ergebnis die materielle Kontrolle darauf, ob die Leistungen evident unzureichend sind. Innerhalb der materiellen Bandbreite, welche diese Evidenzkontrolle belässt, kann das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums keine quantifizierbaren Vorgaben liefern. Es erfordert aber eine Kontrolle der Grundlagen und der Methode der Leistungsbemessung daraufhin, ob sie dem Ziel des Grundrechts gerecht werden. Um eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Nachvollziehbarkeit des Umfangs der gesetzlichen Hilfeleistungen sowie deren gerichtliche Kontrolle zu gewährleisten, müssen die Festsetzungen der Leistungen auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren tragfähig zu rechtfertigen sein.

Das Bundesverfassungsgericht prüft deshalb, ob der Gesetzgeber das Ziel, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, in einer Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG gerecht werdenden Weise erfasst und umschrieben hat, ob er im Rahmen seines Gestaltungsspielraums ein zur Bemessung des Existenzminimums im Grundsatz taugliches Berechnungsverfahren gewählt hat, ob er die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt und schließlich, ob er sich in allen Berechnungsschritten mit einem nachvollziehbaren Zahlenwerk innerhalb dieses gewählten Verfahrens und dessen Strukturprinzipien im Rahmen des Vertretbaren bewegt hat. Zur Ermöglichung dieser verfassungsgerichtlichen Kontrolle besteht für den Gesetzgeber die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offen zu legen. Kommt er ihr nicht hinreichend nach, steht die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang.

2. Die in den Ausgangsverfahren geltenden Regelleistungen von 345, 311 und 207 Euro können zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht als evident unzureichend angesehen werden. Für den Betrag der Regelleistung von 345 Euro kann eine evidente Unterschreitung nicht festgestellt werden, weil sie zur Sicherung der physischen Seite des Existenzminimums zumindest ausreicht und der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der sozialen Seite des Existenzminimums besonders weit ist.

Dies gilt auch für den Betrag von 311 Euro für erwachsene Partner einer Bedarfsgemeinschaft. Der Gesetzgeber durfte davon ausgehen, dass durch das gemeinsame Wirtschaften Aufwendungen gespart werden und deshalb zwei zusammenlebende Partner einen finanziellen Mindestbedarf haben, der geringer als das Doppelte des Bedarfs eines Alleinlebenden ist.

Es kann ebenfalls nicht festgestellt werden, dass der für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres einheitlich geltende Betrag von 207 Euro zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums offensichtlich unzureichend ist. Es ist insbesondere nicht ersicht

Ist das Bürgergeld besser als Hartz IV?

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