Hohe Hรผrden, wenn der Schwerbehindertenausweis nicht befristet sein soll
Die Ausstellung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises ist fรผr viele Menschen mit Behinderung ein wichtiges Anliegen. Allerdings hat das Thรผringer Landessozialgericht (LSG) entschieden, dass ein solcher Anspruch nur in sehr seltenen Ausnahmefรคllen besteht.
Diese Entscheidung fรผhrt zu einer kontroversen Diskussion: Einerseits fรผhlen sich Betroffene benachteiligt, wenn sie sich in feststehenden gesundheitlichen Verhรคltnissen immer wieder um einen neuen Ausweis bemรผhen mรผssen.
Andererseits sehen Sozialbehรถrden darin eine sachgerechte Umsetzung der gesetzlichen Regelung. Der Fall von โMarco Trรคgerโ (Name von der Redaktion geรคndert) beleuchtet dieses Spannungsfeld besonders eindrรผcklich.
Warum ist die Befristung von Schwerbehindertenausweisen gesetzlich vorgesehen?
Das Sozialgesetzbuch (SGB IX) sieht bei Schwerbehindertenausweisen eine Befristung grundsรคtzlich vor. Diese Pflicht zur zeitlichen Begrenzung wird in der Gesetzesformulierung durch das Wort โsollโ zum Ausdruck gebracht.
Nach Auffassung des LSG Thรผringen ist dies ein klarer Hinweis: Behรถrdenseitig ist im Regelfall ein befristeter Ausweis auszustellen. Der Gesetzgeber verfolgt damit mehrere Ziele:
- Aktualitรคt der Feststellungen: Auch wenn eine wesentliche Verbesserung der Behinderung oft nicht erwartet wird, sollen Ausweisinhaber regelmรครig รผber ihre Rechte und eventuelle Neufeststellungen informiert werden.
- Prรผfung und Plausibilitรคt: Behinderungen und deren Auswirkungen kรถnnen sich รคndern. Eine in gewissen Abstรคnden notwendige Befristung ermรถglicht es, den Grad der Behinderung (GdB) und gesundheitliche Merkmale erneut zu รผberprรผfen.
Die Behรถrden stรผtzen sich darauf, dass diese Praxis dem Regelfall entspricht. Abweichungen kommen nach dieser Rechtsprechung des LSG nur in Frage, wenn ein auรergewรถhnlicher Sachverhalt โ ein โatypischer Fallโ โ vorliegt.
Wer ist von der LSG-Entscheidung betroffen?
Die Entscheidung des Thรผringer Landessozialgerichts ist grundsรคtzlich fรผr alle Personen von Bedeutung, die einen Schwerbehindertenausweis beantragen oder bereits besitzen.
Denn sie verdeutlicht, dass eine Unbefristung nicht automatisch schon dann erteilt wird, wenn der Gesundheitszustand dauerhaft unverรคndert ist. Menschen mit schweren und eindeutig dauerhaften Einschrรคnkungen fรผhlen sich oft benachteiligt: Sie argumentieren, dass fรผr sie kein Grund besteht, in regelmรครigen Abstรคnden einen neuen Antrag zu stellen.
Doch das LSG stellt klar, dass allein die fehlende Aussicht auf Verbesserung des Gesundheitszustandes nicht ausreicht, um einen unbefristeten Ausweis zu rechtfertigen.
Es braucht vielmehr ein starkes Indiz dafรผr, dass die regelmรครigen Antragstellungen fรผr die Betroffenen eine unzumutbare Mehrbelastung darstellen und รผber das รผbliche Maร hinausgehen.
Was war der konkrete Fall โMarco Trรคgerโ?
Marco Trรคger hatte sich bereits 1991 an das damalige Versorgungsamt gewandt, um seine Behinderung und den Grad der Behinderung (GdB) feststellen zu lassen.
1998 erhielt er einen Bescheid รผber einen GdB von 100 und die gesundheitlichen Voraussetzungen fรผr die Befreiung von der Rundfunkgebรผhrenpflicht. Spรคter, im Jahr 2002, wurde auch seine Gehรถrlosigkeit anerkannt.
Als 2014 der neue Schwerbehindertenausweis im Scheckkartenformat eingefรผhrt wurde, beantragte Trรคger einen entsprechend neuen Ausweis. Er verwies darauf, dass sein โalterโ Papierausweis unbefristet gewesen sei und argumentierte, dass sich an seinem Gesundheitszustand nichts รคndern werde.
Doch die Behรถrde stellte ihm lediglich einen auf fรผnf Jahre befristeten Ausweis aus. Nach erfolglosem Widerspruch und einem erneuten Antrag im Jahr 2019, der wiederum abgelehnt wurde, kam es schlieรlich zum Rechtsstreit vor dem Sozialgericht und in der Berufung vor dem Thรผringer Landessozialgericht.
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Welche Grรผnde fรผhrt das LSG fรผr die Befristung an?
Das LSG Thรผringen stรผtzt sich auf die im Gesetz verankerte Soll-Vorschrift. Diese sieht vor, dass Schwerbehindertenausweise im Normalfall mit einer Gรผltigkeitsdauer ausgegeben werden. Zwar kann in atypischen Fรคllen eine Ausnahme gemacht und der Ausweis unbefristet ausgestellt werden. Doch genau hier legte das Gericht einen strengen Maรstab an:
- Atypischer Fall nur bei auรergewรถhnlicher Belastung: Es reicht nicht, dass sich der Gesundheitszustand in absehbarer Zeit nicht verbessern wird. Entscheidend ist vielmehr, ob der Aufwand fรผr die Beantragung des Ausweises im Einzelfall deutlich hรถher ist als bei anderen Schwerbehinderten.
- Abwรคgung von Aufwand und Nutzen: Nach Auffassung des LSG sind regelmรครige Antrรคge fรผr viele Betroffene mit Behinderung durchaus รผblich. Nur wenn ein Betroffener durch auรergewรถhnliche Umstรคnde รผber das normale Maร hinaus belastet wird, kรคme die Unbefristung in Betracht.
Welche Argumente brachte der Trรคger vor
Marco Trรคger machte vor Gericht geltend, dass sein Gesundheitszustand unverรคnderlich sei und ihm durch regelmรครige Neuantrรคge ein unverhรคltnismรครig hoher Aufwand entstehe.
Er sah sich gezwungen, Formulare auszufรผllen, รคrztliche Atteste vorzulegen oder Rรผcksprachen mit den Behรถrden zu halten, obwohl keinerlei Besserungsperspektive bestehe. Auch berief er sich darauf, dass er frรผher bereits einen unbefristeten Ausweis besessen habe und damit ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden sei.
Warum konnte sich Marco Trรคger vor Gericht nicht durchsetzen?
Das Thรผringer Landessozialgericht fรผhrte aus, dass das alleinige Fehlen einer gesundheitlichen Verรคnderung noch keine atypische Situation im Sinne des Gesetzes darstellt. Gerade dieser Umstand โ eine gleichbleibend schwere gesundheitliche Beeintrรคchtigung โ treffe auf eine groรe Zahl schwerbehinderter Menschen zu.
Dass Herr Trรคger zuvor bereits einen unbefristeten Ausweis hatte, spielte nach Ansicht des Gerichts keine wesentliche Rolle. Zum einen war dieser Bescheid schon mehrere Jahre alt und zum anderen ergebe sich daraus kein kontinuierlicher Anspruch, weil neue gesetzliche Regelungen maรgeblich seien.
Der Aufwand, den Marco Trรคger durch die Antragstellung habe, unterscheide sich nach รberzeugung des Gerichts nicht substantiell von dem anderer schwerbehinderter Menschen. Somit liege gerade kein โatypischer Fallโ vor, der eine Unbefristung rechtfertigen wรผrde.
Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesem Urteil?
Die Entscheidung des Thรผringer Landessozialgerichts macht deutlich, dass ein dauerhafter Schwerbehindertenausweis nur in Ausnahmefรคllen ausgestellt wird.
Wer gesundheitlich dauerhaft schwerbehindert ist, muss trotz fehlender Besserungsperspektive die Befristung grundsรคtzlich hinnehmen. Die praktischen Folgen sind:
- In regelmรครigen Abstรคnden muss ein Verlรคngerungs- oder Neuausstellungsantrag gestellt werden.
- Durch die damit verbundenen Nachweise, Formulare und Fristen entsteht fรผr viele Schwerbehinderte ein zusรคtzlicher organisatorischer Aufwand.
- Behรถrden erhalten die Mรถglichkeit, den aktuellen Grad der Behinderung zu รผberprรผfen, selbst wenn sich in der Vergangenheit wenig geรคndert hat.
Unter welchen Bedingungen ist ein unbefristeter Ausweis dennoch mรถglich?
Laut Rechtsprechung des LSG Thรผringen kann nur in โatypischen Fรคllenโ von der gesetzlichen Vorgabe abgewichen werden. Was ist damit konkret gemeint? Insbesondere:
- Erhebliche Mehrbelastung: Die regelmรครige Neubeantragung des Ausweises mรผsste fรผr den Betroffenen eine besondere, รผber das รผbliche Maร hinausgehende Belastung darstellen. Beispielsweise kรถnnten extrem erschwerte Kommunikationsbedingungen oder auรergewรถhnliche bรผrokratische Hรผrden eine Rolle spielen.
- Konkrete Umstรคnde: Die reine Dauerhaftigkeit der Behinderung reicht nach dem LSG nicht aus, es mรผssen konkrete, zusรคtzliche Schwierigkeiten im Antragsverfahren vorliegen.
In der Praxis dรผrften diese Bedingungen nur sehr selten erfรผllt sein, sodass die meisten Schwerbehinderten weiterhin befristete Ausweise erhalten werden.
Wie bewerten Verbรคnde und Betroffene diese Situation?
Sozialverbรคnde und Betroffenenvertretungen zeigen sich teils kritisch gegenรผber dieser Rechtsprechung. Sie verweisen auf folgende Aspekte:
- Bรผrokratieabbau: Gerade fรผr Menschen mit starken, permanenten Beeintrรคchtigungen kรถnnte eine Unbefristung unnรถtige Bรผrokratie ersparen.
- Verlรคsslichkeit: Ein unbefristeter Ausweis schafft Sicherheit und Klarheit, insbesondere in Fรคllen, in denen keinerlei Aussicht auf Gesundheitsverbesserung besteht.
- Rechtliche Klarheit: Die derzeitige Praxis fรผhrt zu Verwirrung, weil รคltere Bescheide manchmal unbefristet waren, neuere jedoch grundsรคtzlich befristet werden.
Auf der anderen Seite argumentieren Behรถrden, dass ein befristeter Ausweis durchaus sinnvoll sei, um den aktuellen Stand zu prรผfen und sicherzustellen, dass alle Behinderungsmerkmale und Nachteilsausgleiche korrekt eingetragen und berรผcksichtigt werden.
Ist eine Unbefristung รผberhaupt realistisch?
Die Entscheidung des Thรผringer Landessozialgerichts zeigt deutlich, dass die Hรผrden fรผr einen unbefristeten Schwerbehindertenausweis hoch sind. Zwar rรคumt das Gesetz grundsรคtzlich eine Mรถglichkeit ein, von der Befristung abzusehen.
Doch genau diese Ausnahmeregelung wird in der Praxis nur dann greifen, wenn eine extreme Abweichung vom Regelfall vorliegt und die Antragstellung eine auรerordentliche Belastung fรผr die betreffende Person darstellt.
Wer also plant, einen unbefristeten Schwerbehindertenausweis zu beantragen, sollte sich รผber die restriktive Haltung der Gerichte bewusst sein. Allein die fehlende Verbesserungsaussicht im Gesundheitszustand genรผgt nach der aktuellen Rechtsprechung nicht. Auch der Umstand, dass frรผher einmal ein unbefristeter Ausweis erteilt wurde, begrรผndet keinen fortdauernden Anspruch darauf.
Betroffene kรถnnen sich an Anwรคltinnen, Anwรคlte oder an Beratungsstellen von Wohlfahrts- und Behindertenverbรคnden wenden, um ihre Chancen zu prรผfen.
In Einzelfรคllen kann eine anwaltliche Beratung aufzeigen, ob ungewรถhnliche Belastungen im eigenen Fall vorliegen, die eine Abweichung von der Regelfrist rechtfertigen kรถnnten. Fรผr die Mehrheit der Schwerbehinderten jedoch wird ein erneuter Antrag in regelmรครigen Abstรคnden offenbar weiterhin die Regel sein.