Schwerbehinderung: Merkzeichen gestrichen – obwohl das Kind nicht alleine laufen kann

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Für viele Betroffene, ihre Angehörigen und Beratungsstellen ist das Nachteilsausgleichssystem im Schwerbehindertenrecht eine wichtige Größe: Der richtige Grad der Behinderung (GdB) sowie die Zuerkennung von Merkzeichen wie „G“, „B“, „H“ oder „aG“ können massive Auswirkungen haben – von Parkerleichterungen bis zur Eingliederungshilfe.

Der nun vorliegende Beschluss des Hessischen Landessozialgerichts vom 1. Juli 2022 (Az.: L 3 SB 47/20) behandelt genau zwei dieser Fragen: die Herabsetzung des GdB und die Entziehung des Merkzeichens „aG“ – hier im Kontext eines Kindes mit Trisomie 21.

Damit eröffnet der Beschluss nicht nur Einblicke in die Prüfpraxis der Behörden, sondern zeigt konkret: Auch bei schweren Behinderungen ist nicht automatisch alles garantiert – was viele Betroffene vielleicht anders empfunden haben.

Der Fall in Kürze

Ein bei Geburt mit Trisomie 21 ausgestattetes Kind erhielt durch Bescheid vom 18. September 2014 einen GdB von 100 sowie die Merkzeichen „G“, „B“, „aG“ und „H“. Ursächlich war insbesondere eine ausgeprägte Muskelhypotonie, sodass das Kind damals noch nicht frei stehen oder gehen konnte.

Das Land ließ eine Nachuntersuchung zu einem späteren Zeitpunkt ansetzen. Im Jahr 2016/17 ergaben sich – laut Arztbriefen – deutliche Entwicklungsfortschritte: Das Kind läuft mittlerweile frei, wenngleich mit wackligem Gangbild; die Sprachfähigkeit hat sich verbessert. Aus diesen Befunden leitete die Behörde eine Reduktion des GdB auf 80 und die Entziehung des Merkzeichens „aG“ mit Wirkung ab 1. April 2017 ein.

Gegen diese Maßnahme klagte der Kläger, blieb jedoch sowohl beim Erstgericht (Sozialgericht Gießen – Urteil vom 27.2.2020) als auch im Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht ohne Erfolg: Der Beschluss weist die Berufung zurück – mit der Begründung, dass sich im Vergleich zur Ausgangssituation eine wesentliche Besserung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X ergeben habe.

Warum ist das relevant?

Erstens, weil das Urteil zeigt, dass behördliche und gerichtliche Bewertungen sich nicht allein an der Diagnosenlage orientieren, sondern ganz klar auch an realen funktionellen Verbesserungen.

Wer also eine schwere Behinderung hat, darf nicht davon ausgehen, dass alle Begünstigungen automatisch lebenslang unverändert gelten. Die Entwicklung kann zu einer Reduktion des GdB oder sogar zum Entzug von Merkzeichen führen.

Zweitens, weil sich das Urteil ausdrücklich mit der Frage auseinandersetzt, unter welchen Bedingungen das Merkzeichen „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung) entzogen werden kann – trotz bestehender Behinderung und deutlicher Alltagsbelastung der Familie.

Ein häufiger Irrtum vieler Betroffener lautet: „Wenn ich G habe, dann aG automatisch“. Dieses Urteil macht deutlich: So einfach ist das nicht.

Typische Prüf- und Abwehrpunkte im Verfahren

Darauf achten die Versorgungsämter und Gerichte Darauf sollten Betroffene reagieren
Objektive medizinische Befunde und Gutachten zum Zeitpunkt des letzten Bescheids und zur aktuellen Lage Eigene aktuelle ärztliche Stellungnahmen einholen, die auch Funktionseinschränkungen im Alltag dokumentieren
Dokumentierte Verbesserungen bei Mobilität, Sprache, Selbstständigkeit Nachweis führen, ob trotz Fortschritten weiterhin erhebliche Teilhabeeinschränkungen bestehen
Verwendet das Kind (oder die betroffene Person) regelmäßig Hilfsmittel wie Rollstuhl oder Buggy? Fotografien, Bescheinigungen oder Alltagsberichte einreichen, die die tatsächliche Abhängigkeit von Hilfsmitteln belegen
Greift § 48 SGB X: Liegt eine „wesentliche Änderung“ vor? Hinterfragen, ob die Änderung wirklich wesentlich ist – etwa durch Vergleich alter und neuer Befunde
Wird das Merkzeichen „aG“ streng nach VMG und Mobilitätsbezug geprüft? Auf mentale Einschränkungen (z. B. Weglauftendenz, fehlendes Gefahrbewusstsein) nur verweisen, wenn diese konkret die Gehfähigkeit beeinträchtigen
Wurden ärztliche oder pädagogische Fachkräfte als Zeugen benannt und berücksichtigt? Falls nicht: auf Zeugenvernehmung bestehen – und glaubhafte Begründung liefern, warum deren Aussagen entscheidend sind

Welche Lehren lassen sich daraus ziehen?

Für Betroffene und ihre Angehörigen heißt das konkret: Wer eine Schwerbehinderung mit Merkzeichen „aG“ besitzt, sollte wissen, dass regelmäßige Überprüfungen möglich sind. Eine Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse in Richtung Besserung kann – entgegen dem intuitiven Empfinden vieler – auch zu einer Reduktion des GdB oder zum Entzug eines Merkzeichens führen.

Es ist wichtig, sich bewusst zu machen, dass die Behörden mehr als die Diagnose betrachten: Sie bewerten Funktion, Mobilität, Teilhabe und Alltagssituation.

Gleichzeitig zeigt die Entscheidung, dass der Anspruch auf „aG“ eng bemessen ist. Selbst bei erheblicher geistiger oder kombinierter Beeinträchtigung genügt eine Ebene der Beaufsichtigung oder Begleitung im Alltag nicht zwingend, wenn die physische Mobilität außerhalb des Kraftfahrzeugs auch in realitätsnahen Alltagssituationen nicht dauerhaft mit großer Anstrengung oder Fremdhilfe verbunden ist.

Das heißt: Der Maßstab wird vom öffentlichen Raum und der tatsächlichen Teilhabe gesetzt, nicht primär vom innerfamiliären Umfeld. Diese Rechtsprechungslinie war schon in andern Entscheidungen des Bundessozialgerichts erkennbar.

Fazit

Der Beschluss L 3 SB 47/20 ist nicht nur juristisch interessant, sondern von hoher praktischer Relevanz. Er sensibilisiert dafür, dass «Nachteilsausgleiche» im Schwerbehindertenrecht keine statischen Rechte sind, sondern einer Überprüfung unterliegen – und dass der Begriff «außergewöhnliche Gehbehinderung» klar definiert ist, über das intuitive Empfinden hinaus.

Wer also als Elternteil, Angehörige oder Beratungsfachkraft mit solchen Themen befasst ist, sollte diesen Beschluss kennen – er hilft zu verstehen, warum manche Anträge oder Begünstigungen abgelehnt, gekürzt oder entzogen werden, und wie man sich als Betroffener besser auf Verfahren oder Anhörungen vorbereiten kann.