Bei einem Grad der Behinderung (GdB) wegen einer schweren Erkrankung gilt die sogenannte Heilungsbewรคhrung. Da der gesundheitliche Zustand sich durch eine Therapie verbessern kann, gilt der festgestellte Grad der Behinderung nur befristet. Nach einigen Jahren prรผft das Versorgungsamt erneut, wie die Situation sich entwickelt hat.
Rechtlich basiert die Bewertung auf den Versorgungsmedizinischen Grundsรคtzen (Anlage zur VersMedV/VMG). Eine Herabsetzung nach Ablauf der Heilungsbewรคhrung erfolgt regelmรครig als โwesentliche รnderungโ nach ยง 48 SGB X.
Inhaltsverzeichnis
Dauer der Heilungsbewรคhrung bei Darmkrebs
Die Heilungsbewรคhrung beginnt typischerweise mit Abschluss der Primรคrtherapie, also Operation, Bestrahlung oder Chemotherapie. Bei Darmkrebs dauert sie in der Regel fรผnf Jahre. Anschlieรend zรคhlt fรผr die Einstufung allein, welche funktionellen Einschrรคnkungen tatsรคchlich bestehen.
LSG Baden-Wรผrttemberg: Risiko allein begrรผndet keinen GdB
Das kann sogar dazu fรผhren, dass statt wie zuvor eine Schwerbehinderung gar keine Behinderung mehr gilt. So urteilte das Landessozialgericht Baden-Wรผrttemberg in einem konkreten Fall (Landessozialgericht Baden-Wรผrttemberg, Urteil vom 21.02.2019 โ L 6 SB 2892/18).
Leitsatz des Gerichts zur Neubewertung
Die Richter orientierten sich an dem Leitsatz, dass sich der Grad der Behinderung nach Ablauf der Heilungsbewรคhrung nur noch nach den tatsรคchlich vorhandenen Funktionseinbuรen bemisst. Ob ein Risiko besteht, erneut zu erkranken, spielt bei dieser Neueinstufung keine Rolle.
Ausgangslage: GdB 80 wegen Darmkrebs
Der Betroffene erkrankte 2009 an Krebs im Dickdarm. รrzte entfernten ihm den Tumor, anschlieรend folgte eine Rehabilitation. Im Jahr der Operation stellte das Versorgungsamt auf Antrag einen GdB von 80 wegen der Dickdarmerkrankung fest, auรerdem einen GdB von zehn fรผr eine Funktionseinschrรคnkung im Handgelenk.
Der GdB von 80 war in Heilungsbewรคhrung anerkannt. Das bedeutete fรผnf Jahre Befristung mit anschlieรender erneuter Prรผfung.
Nachprรผfung nach fรผnf Jahren: Hinweise des Betroffenen
2014 leitete die Behรถrde eine Nachuntersuchung ein. Der Betroffene gab an, er leide an einem familiรคr bedingten Geneffekt mit erhรถhtem Krebsrisiko. Auรerdem berichtete er รผber wiederkehrenden Durchfall und Verstopfung, weshalb er auf seine Ernรคhrung achten mรผsse.
Er nannte zusรคtzlich Heuschnupfen, Beschwerden am rechten Handgelenk und Folgen eines Kreuzbandrisses. Eine รคrztliche Bescheinigung bestรคtigte ein HNPCC-/Lynch-Syndrom mit erhรถhtem Risiko fรผr Tumoren des Verdauungstrakts und der Harnorgane.
Prognose vs. Funktion: Warum die Heilungsbewรคhrung nicht verlรคngert wurde
Auch eine ungรผnstige Prognose oder engmaschige Nachsorge verlรคngert die Heilungsbewรคhrung grundsรคtzlich nicht. Nach Ablauf wird ausschlieรlich die objektiv feststellbare Funktionsbeeintrรคchtigung bewertet und nicht das statistische Risiko.
Medizinische Lage zum Zeitpunkt der Entscheidung
Obwohl die Krebserkrankung fรผnf Jahre zurรผcklag, waren regelmรครige Kontrollen erforderlich. Zugleich lag kein โfassbarer Erkrankungsprozessโ vor. Der Betroffene war kรถrperlich gut belastbar, Hinweise auf Tumorwachstum bestanden nicht.
Ergebnis der Neubewertung: Kein GdB mehr wegen Krebs
Das Versorgungsamt sah wegen des Krebsleidens keinen GdB mehr. Die Einschrรคnkungen im Handgelenk rechtfertigten weiterhin einen GdB von zehn, der nun den Gesamt-GdB bestimmte.
Widerspruch und Klage: Argumente des Betroffenen
Der Betroffene wandte ein, eine Heilung liege nicht vor. Das genetisch erhรถhte Krebsrisiko wirke sich weiterhin auf sein Leben aus, weshalb ein GdB anzuerkennen sei. Fรผr das Handgelenk hielt er einen GdB von 20 fรผr angemessen.
Das Versorgungsamt wertete die Unterlagen eines Versorgungsarztes aus und wies den Widerspruch zurรผck. Die Klage blieb vor dem Sozialgericht und in der Berufung vor dem Landessozialgericht ohne Erfolg.
Begrรผndung des LSG: Keine funktionellen Einschrรคnkungen mehr
Die Richter erklรคrten die Entscheidung des Versorgungsamts fรผr rechtmรครig. Es gab keine Anhaltspunkte fรผr ein erneutes Tumorwachstum. Bei einer behandelbaren Darmerkrankung gilt eine Heilungsbewรคhrung von fรผnf Jahren als Hรถchstgrenze, die 2014 erreicht war.
Ein โatypischer Fallโ, der eine Verlรคngerung rechtfertigen wรผrde, lag nicht vor. Der Klรคger litt nicht mehr unter funktionellen Einschrรคnkungen aufgrund seines Darmleidens.
Maรstab nach den VMG: Beschwerden reichen nicht aus
Die vorhandenen Beschwerden infolge der Darmerkrankung rechtfertigten keinen GdB. Maรgeblich ist der Vergleich mit den VMG-Kriterien, etwa bei Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn.
Nach Ablauf der Heilungsbewรคhrung werden fortbestehende Darmfunktionsstรถrungen, etwa chronische Diarrhรถ, Inkontinenz oder Stoma-Folgen, nach den Verdauungs-Kriterien der VMG bewertet. Reine Beschwerden ohne objektivierbare Funktionsdefizite genรผgen nicht.
Fazit des Falls und praktischer Hinweis
Die Schwerbehinderung mit GdB 80 wurde zu Recht auf null gesetzt. Lediglich der GdB von zehn fรผr die Einschrรคnkungen am Handgelenk blieb bestehen.
Praktischer Hinweis: Wer dauerhafte, รคrztlich dokumentierte Folgeschรคden nachweisen kann, sollte diese im Rahmen der Neubewertung gezielt vorlegen, damit die funktionellen Auswirkungen nach den VMG sachgerecht berรผcksichtigt werden.




