Schwerbehinderung:  Rückwirkender GdB – das bringt das Datum im Bescheid wirklich

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Wer einen Feststellungsbescheid zum Grad der Behinderung (GdB) bekommt, liest oft zuerst die Zeile „gilt ab …“ – und erwartet, dass sich damit Steuern, Zusatzurlaub und Kündigungsschutz automatisch für die Vergangenheit „nachholen“ lassen. Genau das passiert in der Praxis häufig nicht.

Das Datum ist wichtig, weil es festlegt, ab wann der Status rechtlich bestehen soll; es hebt aber keine Fristen auf, ersetzt keine rechtzeitige Mitteilung und lässt verfallene Ansprüche nicht einfach wieder entstehen.

Vorab: GdB ist nicht automatisch „Schwerbehinderung“

Schwerbehindert im Sinne des SGB IX ist, wer einen GdB von wenigstens 50 festgestellt hat. Wer einen GdB 30 oder 40 hat, kann bei der Agentur für Arbeit eine Gleichstellung beantragen.

Für den Kündigungsschutz kann die Gleichstellung entscheidend sein; beim Zusatzurlaub besteht für Gleichgestellte grundsätzlich kein Anspruch.

Rückwirkung: eher Antragstag – weiter zurück nur ausnahmsweise

In der Praxis gilt der GdB häufig rückwirkend ab Antragstellung. Eine Feststellung für noch frühere Zeiträume kommt typischerweise nur in Betracht, wenn ein konkreter Vorteil plausibel gemacht wird (zum Beispiel steuerliche Gründe) und die medizinische Lage für den Zeitraum tragfähig belegt ist.

Steuer: Rückwirkend kann Geld fließen – aber nur, solange Jahre noch änderbar sind

Der wichtigste Hebel ist meist der Behinderten-Pauschbetrag. Ob frühere Steuerjahre noch profitieren, entscheidet weniger das „Gültig-ab“-Datum als das Steuerverfahrensrecht. Für die Einkommensteuer gilt grundsätzlich eine Festsetzungsfrist von vier Jahren.

Ein häufiger Irrtum: Die nachträgliche Erteilung oder Vorlage einer Bescheinigung ist steuerrechtlich nicht automatisch ein „rückwirkendes Ereignis“, das alte Jahre unbegrenzt wieder öffnet. Praktisch bedeutet das:

Ein rückwirkend festgestellter GdB kann bei den letzten, verfahrensrechtlich noch offenen Jahren zu Erstattungen führen. Sind ältere Jahre bestandskräftig und die Fristen abgelaufen, bleibt der Steuervorteil für diese Jahre in der Regel verloren.

Zusatzurlaub: Anspruch entsteht – kann aber trotz Rückwirkung verfallen

Zusatzurlaub gibt es für schwerbehinderte Menschen nach § 208 SGB IX (bei 5-Tage-Woche regelmäßig fünf zusätzliche Urlaubstage, angepasst bei anderer Wochenarbeitszeit). Für Gleichgestellte besteht kein Anspruch auf Zusatzurlaub.

Für die Rückwirkung ist nicht nur das Datum im Bescheid entscheidend, sondern ob der Anspruch im jeweiligen Urlaubsjahr noch existiert. Wenn der Arbeitgeber keine Kenntnis von der Schwerbehinderung hatte und sie auch nicht offenkundig war, kann Zusatzurlaub mit Ablauf des Urlaubsjahres beziehungsweise nach einem zulässigen Übertragungszeitraum verfallen.

Dann hilft eine spätere – sogar rückwirkende – Anerkennung häufig nicht mehr, weil der Anspruch bereits untergegangen ist.

Konsequenz für Betroffene: Das Bescheiddatum „zieht“ beim Zusatzurlaub nur dann, wenn der Arbeitgeber rechtzeitig informiert war (oder Offenkundigkeit vorlag) und der Anspruch nicht schon verfallen ist.

Kündigungsschutz: Drei Wochen sind nicht gleich drei Wochen – plus eine Frist, die oft alles entscheidet

Der besondere Kündigungsschutz bedeutet grundsätzlich: Vor einer Kündigung muss der Arbeitgeber die Zustimmung des Integrationsamts einholen. Ausnahmen gelten unter anderem in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses. Der Kündigungsschutz gilt auch für gleichgestellte Menschen.

Damit die Rückwirkung in der Kündigungssituation tatsächlich hilft, müssen drei Themen sauber getrennt werden:

Erstens: Antrag rechtzeitig vor Kündigungszugang. Wenn bei Zugang der Kündigung noch kein Bescheid vorliegt, kann der Kündigungsschutz dennoch greifen, wenn der Antrag auf Anerkennung (oder Gleichstellung) rechtzeitig vor der Kündigung gestellt wurde und die Feststellung später erfolgt.

In vielen Darstellungen wird hierfür als Orientierung eine Frist von mindestens drei Wochen vor Zugang der Kündigung genannt.

Zweitens: Mitteilung an den Arbeitgeber nach der Kündigung. Hat der Arbeitgeber bei Ausspruch der Kündigung keine Kenntnis, stellt sich die Frage, wie schnell die Schwerbehinderung nachträglich mitgeteilt werden muss, damit der Schutz nicht leerläuft. Hier gibt es Rechtsprechung, die je nach Konstellation auf eine zeitnahe Mitteilung abstellt; eine starre Einheitsregel ist aber nicht in jedem Fall sauber.

Drittens – und in der Praxis am wichtigsten: Die Kündigungsschutzklage. Wer eine Kündigung angreifen will, muss regelmäßig innerhalb von drei Wochen nach Zugang Klage erheben. Diese Klagefrist ist der häufigste Grund, warum auch ein „günstiges“ Bescheiddatum am Ende nichts mehr rettet.

FAQ

Kann ein GdB weiter als bis zum Antragstag rückwirkend festgestellt werden?
Nur ausnahmsweise, meist nur bei nachgewiesenem konkretem Vorteil und belastbarer medizinischer Dokumentation.

Gibt es Zusatzurlaub auch bei Gleichstellung?
Nein.

Macht ein rückwirkender Bescheid eine Kündigung automatisch unwirksam?
Nein. Entscheidend sind unter anderem Antragstellung vor Kündigung, mögliche Ausnahmen und vor allem die Klagefrist.

Wie weit können Steuervorteile rückwirkend genutzt werden?
Nur soweit Steuerjahre verfahrensrechtlich noch änderbar sind; eine pauschale „Rückwirkung ohne Ende“ gibt es nicht.

Quellenübersicht

  • SGB IX: Schwerbehinderung und Gleichstellung (§ 2)
  • SGB IX: Zusatzurlaub (§ 208)
  • SGB IX: Kündigungsschutz / Zustimmung Integrationsamt (§§ 168 ff.)
  • SGB IX: Ausnahmen von der Zustimmungspflicht (§ 173)
  • EStG: Behinderten-Pauschbetrag (§ 33b)
  • AO: Festsetzungsfrist (§ 169)
  • AO: Bescheinigung kein rückwirkendes Ereignis (§ 175 Abs. 2 Satz 2)
  • BAG-Rechtsprechung zum Verfall von Zusatzurlaub bei fehlender Arbeitgeberkenntnis
  • BAG-Rechtsprechung zur Kenntnis/Mitteilung der Schwerbehinderung im Kündigungskontext
  • KSchG: Drei-Wochen-Klagefrist (§ 4)