Schwerbehinderung: Gerichts-Hammer – Behörde darf GdB nicht einfach kürzen

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Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg hat eine Herabstufung des Grades der Behinderung (GdB) von 50 auf 30 gestoppt. Die Richter entschieden am 10. Juni 2025 (Az. L 11 SB 24/23), dass ein 66-jähriger Mann mit follikulärem Non-Hodgkin-Lymphom seinen Schwerbehindertenausweis behalten darf.

Die Behörde konnte nicht beweisen, dass sich sein Gesundheitszustand wesentlich verbessert hat. Für viele Krebspatientinnen und Patienten ist das ein deutliches Signal: Ohne lückenlose Nachweise darf das Amt den GdB nicht kürzen.

Gericht stoppt die Kürzung des Behinderungsgrades

Der Kläger lebt seit 2016 mit einem nur teilweise zurückgegangenen Lymphom. Schon damals erkannte die Verwaltung einen GdB von 50 an. 2019 startete sie eine routinemäßige Nachprüfung und stützte sich dabei primär auf das Motto „watch & wait“: Weil der Mann keine Chemotherapie mehr bekam, sah sie eine wesentliche Besserung und senkte den GdB. Das Sozialgericht Potsdam kassierte den Bescheid bereits 2022 – nun hat das LSG die Entscheidung bestätigt.

Warum die Behörde scheiterte

Die Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) legt klar fest: Ein lokalisiertes, niedrigmalignes Non-Hodgkin-Lymphom erhält mindestens drei Jahre lang einen GdB von 50, nach einer vollständigen Tumorfreiheit. In diesem Fall gab es aber nie eine Vollremission.

Ein Resttumor von 4,5 × 1,5 cm blieb dauerhaft sichtbar. Damit greift eine einfache „Erst-recht-Logik“: Wenn selbst nach Vollremission ein GdB 50 gilt, muss er erst recht gelten, solange der Tumor nachweisbar ist.

Was bedeutet Heilungsbewährung?

Heilungsbewährung ist eine dreijährige Beobachtungszeit. Sie beginnt erst, wenn die medizinische Bildgebung keinen Tumor mehr zeigt. Viele Betroffene verwechseln diese Phase mit einer Behandlungspause. Tatsächlich soll sie nur bestätigen, dass die Erkrankung stabil bleibt. Solange Restbefunde existieren, startet die Frist nicht – entsprechend darf der GdB nicht sinken.

Beweislast liegt bei der Behörde

Ein Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts von 1989 verpflichtet Ämter, jede GdB-Kürzung lückenlos zu begründen. Sie müssen nachweisen, dass sich die gesundheitlichen Verhältnisse „wesentlich“ geändert haben (§ 48 SGB X). Im aktuellen Fall kam die Behörde über Vermutungen nicht hinaus:

Es fehlten histologische Befunde, die den Resttumor als harmlos belegen könnten. Auch ein später eingeholtes Gutachten half nicht, weil es die VersMedV-Tabellen ignorierte.

Das bringt das Urteil für Betroffene

Solange eine Vollremission nicht nachgewiesen ist, können chronisch Kranke ihren Schwerbehindertenausweis behalten; gewinnen sie zudem vor Gericht, ersetzt der Staat ihnen sämtliche Prozess- und Anwaltskosten nach § 193 SGG.

So handeln Sie, wenn Ihr GdB sinken soll

Legen Sie sofort schriftlich Widerspruch ein und fordern Sie die Behörde auf, konkrete Befunde vorzulegen. Achten Sie in Gutachten darauf, ob Sachverständige die Nummer 16.3.1 der VersMedV richtig anwenden.

Verzichten Sie niemals auf Befunderhebungen, nur weil der Amtsarzt es „nicht für nötig“ hält. Holen Sie im Zweifel selbst eine zweite Meinung ein – viele Beratungsstellen der Krebs- und Sozialverbände helfen dabei ohne Gebühren.

Praktischer Nutzen für Leistungsbezieher

Ein GdB von 50 schützt nicht nur vor Nachteilen im Arbeitsleben. Er kann auch Freibeträge bei der Grundsicherung, Vergünstigungen bei der Rundfunkgebühr und Fahrtkostenerstattungen sichern. Wer sich gegen eine Kürzung wehrt, wahrt also bares Geld – jeden Monat.

Beweislast bei der Absenkung des GdB

Verfahrensphase Was die Behörde zwingend beweisen muss Welche Belege dafür erforderlich sind Rechte & Taktik der Betroffenen
1 . Nachprüfung einleiten (§ 152 Abs. 1 SGB IX) „Wesentliche Änderung“ der Gesundheitslage seit dem letzten Feststellungsbescheid – Aktuelle ärztliche Gutachten – Befundberichte & Bildgebung – Klare Zuordnung der Diagnose zum VersMedV-Bewertungsschema
Einsicht in die Akte verlangen; prüfen, ob tatsächlich neue Befunde vorliegen oder nur Routinekontrolle erfolgt.
2 . Anhörung § 24 SGB X Konkrete, nachvollziehbare Begründung, warum ein niedrigerer Einzel- oder Gesamt-GdB gerechtfertigt wäre – Vergleichsgutachten alt ↔ neu – Dokumentierter Verlauf (Voll- vs. Teilremission)
Innerhalb der Frist Gegendarstellung abgeben; eigene Arztberichte beifügen, die eine Vollremission verneinen.
3 . Bescheid erlassen (§ 48 Abs. 1 SGB X) Lückenlose Kausal- und Rechts­kette: von „wesentlicher Änderung“ ➜ „neue GdB-Einstufung“ nach VersMedV – Zitat der einschlägigen Tabellenwerte – Medizinische Plausibilitätsprüfung (z. B. TNM- oder Ann-Arbor-Stadium)
Bescheid genau auf VersMedV-Quellenangabe abklopfen; fehlen Tabellenstellen → Angriffspunkt.
4 . Widerspruch/Klage Vor Gericht: Fortbestehendes abgesenkten Gesundheitsniveaus + richtige Anwendung der Rechtsnormen – Gerichtsfestes Facharztgutachten – Beweisanträge (z. B. CT-Vergleich)
Verlangen, dass Gericht Behördezur Vorlage vollständiger Gutachten verpflichtet (Beweislastumkehr nach BSG 9 RVs 3/89).