Das Merkzeichen aG ist kein prophylaktischer Schutzschild fรผr Personen, die irgendwann einmal in ihrer Gehfรคhigkeit eingeschrรคnkt sein kรถnnten. Es wird ausschlieรlich dann erteilt, wenn eine bereits vorliegende, dauerhaft auรergewรถhnliche Gehbehinderung objektiv nachgewiesen ist.
Anders als bei Vorsorgeuntersuchungen, Rehabilitationsleistungen oder Prรคventionskursen verfolgt das aG keine vorbeugende Gesundheits- oder Unfallvermeidungsfunktion. Es soll vielmehr kompensieren, dass Betroffene ohne fremde Hilfe kaum noch am รถffentlichen Leben teilnehmen kรถnnen.
Merksatz: aG = Nachteilsausgleich bei eingetretener schwerster Mobilitรคtseinschrรคnkung, nicht Vorsorgemaรnahme gegen mรถgliche zukรผnftige Gehprobleme.
Mit diesem Grundverstรคndnis im Hinterkopf ordnen wir nun den bekannten Osnabrรผcker Gerichtsfall, die gesetzlichen Voraussetzungen und die praktischen Folgen ein.
Inhaltsverzeichnis
Der konkrete Fall: Entscheidung des Sozialgerichts Osnabrรผck
Am 27.โฏNovemberโฏ2019 verhandelte das Sozialgericht Osnabrรผck den Antrag einer 63-jรคhrigen Rollstuhlnutzerin, die das Merkzeichen aG begehrte. Die Frau litt unter fortgeschrittener Coxโ und Gonarthrose, multiplen Wirbelsรคulenverschleiรschรคden sowie chronischen Schmerzen. Bereits 2014 war dafรผr ein EinzelโGdB 50 anerkannt worden.
2017 kam eine beidseitige Innenohrschwerhรถrigkeit hinzu (EinzelโGdB 30). Durch Addition ergab sich ein GesamtโGdB 80. Mit Verweis auf den hohen GesamtโGdB argumentierte die Klรคgerin, sie habe Anspruch auf aG und damit u.โฏa. auf einen blauen EUโParkausweis, โum Stรผrze zu vermeidenโ.
Behรถrdliche Ablehnung und Widerspruch
Das Versorgungsamt lehnte den Antrag ab, weil nur 50 Punkte des GesamtโGdB auf mobilitรคtsrelevante Leiden entfielen. Die Schwerhรถrigkeit erhรถhe zwar den Gesamtwert, verbessere aber die Gehfรคhigkeit nicht; damit sei die aGโGrenze von 80 im relevanten Funktionssystem verfehlt. Die Klรคgerin widersprach, blieb jedoch ohne Erfolg.
Urteil und Kernaussage des Gerichts
โDas Merkzeichen aG ist kein Vorsorgeinstrument gegen Stรผrze, sondern ein Nachteilsausgleich, der erst greift, wenn nahezu vollstรคndige Fortbewegungsunfรคhigkeit bereits besteht.โ โ SG Osnabrรผck, S 30 SB 543/17
Das Gericht stellte klar, dass mรถgliche Risiken (Sturzgefahr, rasche Erschรถpfung) den aGโMaรstab nicht absenken dรผrfen. Entscheidend sei eine tatsรคchlich eingetretene auรergewรถhnliche Gehbehinderung mit mobilitรคtsbezogenem TeilโGdB โฅโฏ80. Da dieser Schwellenwert nicht erreicht wurde, wies das Gericht die Klage ab.
Rechtsrahmen und Zielsetzung von aG
Gesetzliche Grundlage: ยงโฏ229โฏAbs.โฏ3 SGB IX
VersMedVโKonkretisierung: Teil D Nr.โฏ1 VersorgungsmedizinโVerordnung
Ziel: Kompensation bereits eingetretener, schwerster Gehbehinderungen durch Parkerleichterungen und andere Nachteilsausgleiche, damit Teilhabe trotz objektiver Mobilitรคtsbarrieren gelingt.
Keine Vorsorge: Anders als Prรคventionsangebote (ยงโฏ20 SGB V) oder RehaโLeistungen (ยงยงโฏ28 ff. SGB IX) setzt aG keinen Anreiz zur Gesundheitsยญerhaltung, sondern reagiert auf ein vollendetes Defizit.
Voraussetzungen im Detail โ und warum sie Vorsorge ausschlieรen
Mobilitรคtsbezogener GdB โฅโฏ80
Nur Funktionsstรถrungen, die direkt die Gehfรคhigkeit betreffen, zรคhlen. Hรถrโ, Sehโ oder psychische Leiden erhรถhen zwar den GesamtโGdB, vermitteln aber keine Vorsorge und kรถnnen deshalb das aGโKriterium nicht โauffรผllenโ.
Dauerhaft auรergewรถhnliche Gehbehinderung
Die Restgehstrecke liegt objektiv unter 100 Meter. Selbst mit Hilfsmitteln sind hรคufige Pausen, starke Schmerzen und Atemnot nachweisbar.
Vorsorgegedanke? Fehlanzeige โ die Funktionsstรถrung ist bereits manifest und dauerhaft.
Typische Fallgruppen
Krankheitsbild | Warum kein VorsorgeโTatbestand? |
DoppelโBeinamputation |
Irreversibler Verlust der Gehfunktion ist lรคngst eingetreten.
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Querschnittlรคhmung |
Dauerschaden; Maรnahmen wie Krankengymnastik dienen hรถchstens RestโReha, nicht Vorsorge.
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Stadium IV COPD |
Lungenfunktion dauerhaft stark eingeschrรคnkt; Prรคvention konnte das Endstadium nicht verhindern.
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Nachteilsausgleiche โ kompensatorisch, nicht prรคventiv
Zu den wichtigsten Nachteilsausgleichen gehรถren der blaue EUโParkausweis, die KfzโSteuerbefreiung, die Wertmarke fรผr den รPNV sowie die Ermรครigung des Rundfunkbeitrags. Gemeinsam ist ihnen, dass sie keinerlei Vorsorgefunktion erfรผllen, sondern ausschlieรlich bereits bestehende Nachteile ausgleichen:
- Blauer EUโParkausweis: Er erlaubt es, auf speziell ausgewiesenen Schwerbehindertenparkplรคtzen zu parken oder Parkverbote zeitlich begrenzt auszusetzen. Der Zweck liegt einzig darin, den Fuรweg zum Zielort drastisch zu verkรผrzen โ ein prรคventiver Gesundheitsnutzen besteht nicht.
- KfzโSteuerbefreiung: Sie reduziert oder streicht vollstรคndig die Kraftfahrzeugsteuer, weil Betroffene ihr Fahrzeug oft zwingend benรถtigen. Sie verhindert jedoch keine weitere Verschlechterung der Gesundheit.
- รPNVโWertmarke: Mit ihr kรถnnen schwerstgehbehinderte Menschen den Nahverkehr kostenfrei nutzen. Die Leistung soll Mobilitรคt sichern, nicht Erkrankungen vorbeugen.
- Rundfunkbeitragsยญermรครigung: Wer wegen seiner Behinderung weniger Einkommen erzielt, wird finanziell entlastet. Ein medizinischer Vorsorgeeffekt ist damit nicht verbunden.
Keine dieser Vergรผnstigungen beugt einer Verschlechterung der Gehfรคhigkeit vor; sie dienen rein dazu, bestehende Nachteile zu kompensieren und gleichberechtigte Teilhabe zu ermรถglichen.
Praxisleitfaden
- Dokumentieren Sie Ihre tatsรคchliche Gehstrecke โ nicht theoretische Risiken.
- Stellen Sie nur dann Antrag, wenn der mobilitรคtsbezogene GdB realistisch 80 erreicht.
- Argumentieren Sie mit objektiven Befunden, statt โzur Vorsorgeโ Parkerleichterungen zu fordern.
- Nutzen Sie bei Ablehnung Widerspruch und Sozialgericht โ und bringen Sie neue mobilitรคtsbezogene Gutachten ein.
- Beantragen Sie Nachteilsausgleiche erst nach Bewilligung des aG.
FAQ โ Vorsorge vs. Nachteilsausgleich
Kann ich das aG bekommen, um Stรผrzen vorzubeugen, wenn meine Arthrose sich voraussichtlich verschlechtert?
Nein. Die Behรถrde prรผft nur den aktuellen Zustand. Prognosen genรผgen nicht.
Wird ein Rollstuhlยญrezept als Vorsorgegrund anerkannt?
Nein. Ein Rollstuhl kann Teil der Behandlung sein, lรถst aber kein aG aus, solange Sie damit noch lรคngere Strecken zurรผcklegen kรถnnen.
Gibt es รผberhaupt einen prรคventiven Parkausweis?
Nein. Parkausweise sind stets kompensatorisch โ egal ob blau (aG) oder orange (G + B). Zustรคndig fรผr Vorsorge sind z.โฏB. Krankenkassen mit Prรคventionskursen oder die Rentenversicherung mit Reha.
Zusammenfassung
Das Merkzeichen aG verfolgt kein Vorsorgeziel. Es tritt erst dann ein, wenn eine auรergewรถhnliche Gehbehinderung bereits Realitรคt ist und durch medizinische Befunde belegt wird. Prรคventive Erwรคgungen โ etwa Zukunftsรคngste vor Stรผrzen oder der Wunsch, Gelenkverschleiร zu verzรถgern, indem man nรคher am Ziel parkt โ finden im Recht auf aG keine Grundlage.
Der Osnabrรผcker Urteilsspruch verdeutlicht diese Trennlinie exemplarisch. Wer das Merkzeichen beantragt, sollte daher seine Mobilitรคt im Jetzt nachweisen kรถnnen und verstehen, dass aG ein reiner Nachteilsausgleich ist โ nicht mehr und nicht weniger.