Schwerbehinderung: Bitteres Urteil – aG verweigert – trotz E-Rollstuhl und GdB 100

Lesedauer 3 Minuten

Das Merkzeichen aG für eine außergewöhnliche Gehbehinderung bezieht sich nur auf die Einschränkungen der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art.

Von diesem Leitsatz gingen die Richter beim Landessozialgericht Hamburg aus und entschieden so gegen einen Menschen mit Schwerbehinderung, der dieses Merkzeichen rückwirkend gefordert hatte. (L 3 SB 27/21).

Seit 2003 schwerbehindert

Die Betroffene hat eine lange Krankheitsgeschichte und erhielt 2003 erstmals einen Grad der Behinderung von 50. 2010 erhöhte die zuständige Behörde den Grad der Behinderung auf 70.

Die Frau beantragte zusätzlich die Feststellung der Merkzeichen „G“ (erheblich gehbehindert), „aG (außergewöhnlich gehbehindert), „H“ (Hilflosigkeit) und „RF“ (Befreiung vom Rundfunkbeitrag. Dies begründete sie damit, dass sich besonders ein Wirbelsäulenleiden verschlechtert hätte.

Merkzeichen „G“ und Grad der Behinderung von 80

Die zuständige Behörde lehnte den Antrag ab. Auf den Widerspruch der Frau hin ergab eine neue Untersuchung das Merkzeichen „G“ wegen eines Verschleißes beider Kniegelenke und einen Grad der Behinderung von 80. Weitere Merkzeichen erhielt sie nicht. Ein weiterer Antrag blieb erfolglos. Hier begehrte sie unter anderem erneut das Merkzeichen „aG“.

Antrag auf Neufeststellung

2012 stellte sie einen Neufeststellungsantrag, um den Grad der Behinderung von 80 zu erhöhen, und um unter anderen das Merkzeichen „aG“ festzustellen. Die Behörde holte Befund- und Behandlungsberichte der behandelnden Ärzte ein und lehnte nach deren Prüfung den Antrag ab.

Die Frau klagte gegen diesen Bescheid vor dem Sozialgericht Hamburg, und dieses wies auch die Klage ab. (S 12 SB 515/13). Sie ging in Berufung vor dem Landessozialgericht Hamburg, doch auch diese blieb ohne Erfolg. (L 3 SB 19/16).

Grad der Behinderung 100 ab 2015

In einer weiteren Neufeststellung 2015 erhielt sie einen Grad der Behinderung von 100. Ein als Sachverständiger gehörter Urologe stufte sie als „am Rollator gehfähig“ ein. Nach einer gutachterlichen Stellungnahme lehnte das Versorgungsamt das erneut beantragte Merkzeichen „aG“ wiederum ab.

Erneute Klage vor dem Sozialgericht

Wieder klagte die Frau vor dem Sozialgericht Hamburg, weil sie meinte, sie habe Anspruch auf das Merkzeichen „aG“. Sie belegte dies mit Attesten, nach denen sie nur zehn Meter zurücklegen könne.

Das Versorgungsamt legte das Gutachten eines Orthopäden vor, der keine Änderung erkannte, auch nicht, nachdem er die Befund- und Behandlungsberichte der Betroffenen ausgewertet hatte. Der Grad der Behinderung von 100 treffe zu, ebenso die Merkzeichen „G“ und „B“, nicht aber „aG“. Daran ändere auch ein verordneter E-Rollstuhl nichts.

Wegstrecke von zehn bis unter 100 Meter

Das Sozialgericht sah Befundberichte der behandelnden Ärzte ein. Diese bezifferten die mögliche Wegstrecke der Betroffenen mit 25-50 Meter. Ein Orthopäde sah an zwei Terminen eine Steigerung von „maximal zehn Meter“ bis zu „unter 100 Meter“. Sie könne keine größeren Strecken zurücklegen.

Ein behandelnder Arzt äußerte sich nicht zur möglichen Wegstrecke, hielt aber das Merkzeichen „aG“ wegen der Einschränkung der schmerzfreien Wegstrecke aufgrund des Wirbelsäulenleidens für ratsam.

Orthopäde erkennt außergewöhnliche Gehbehinderung

2019 diagnostizierte ein Orthopäde im Auftrag des Sozialgerichts die Beschwerden der Frau und sah die Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ erfüllt.

Sie könne auch für kurze Strecken keinen Rollator mehr nutzen und sei fast vollständig auf einen Rollstuhl angewiesen, könne nur wenige Meter ohne Begleitperson gehen. Die außergewöhnliche Gehbehinderung bestehe vermutlich seit 2018.

Die Frau erhält das Merkzeichen „aG“

Die Versorgungsbehörde nahm dieses Gutachten an und die Betroffene erhielt neben dem Gesamtgrad der Behinderung von 100 die Merkzeichen „G“, „B“ (Anspruch auf eine Begleitperson), „aG“, „Bl“ (Blind), „H“ und „RF“.

Dennoch klagte sie erneut vor dem Sozialgericht, da sie darauf bestand, dass das Merkzeichen „aG“ nicht erst 2018, sondern bereits seit 2015 bestanden hätte. Der Fall ging in die Berufung vor das Landessozialgericht Hamburg und dieses lehnte die Anerkennung des Merkzeichens zu diesem früheren Zeitpunkt ab.

Wie begründeten die Richter das Urteil?

Die Richter erklärten, dass die Betroffene bereits 2015 einen elektrischen Rollstuhl nutzte, sei nicht per se eine Voraussetzung für das Merkzeichen „aG“ im Namen der Teilhabe.

Sie unterschieden dabei klar zwischen der gesetzlichen Krankenversicherung und dem Teilhaberecht. So seien Leistungen der Krankenversicherung darauf ausgerichtet, bestehende Gesundheitsstörungen zu lindern. Beim Teilhaberecht ginge es vielmehr darum, Nachteile im gesamten täglichen Leben auszugleichen. Die Maßstäbe seien also andere.

Das Merkzeichen „aG“ betreffe ausschließlich das Gehvermögen und beziehe sich nicht allgemein auf andere Formen der Beweglichkeit und Mobilität.