Menschen mit Schwerbehinderung stehen im Job oft unter besonderem Druck, wenn sie krankheitsbedingt ausfallen. Ein aktuelles Urteil des Verwaltungsgerichts München (M 15 K 19.4028) zeigt, dass das Integrationsamt Ihren Arbeitsplatz auch dann schützen kann, wenn der Arbeitgeber eine außerordentliche, also fristlose Kündigung mit Auslauffrist plant.
Das Integrationsamt hat in solchen Entscheidungen einen Ermessensspielraum. Für schwerbehinderte Beschäftigte stärkt diese Entscheidung den Kündigungsschutz und die Rolle vorsorgender Maßnahmen wie Prävention und betriebliches Eingliederungsmanagement.
Inhaltsverzeichnis
Außerordentliche Kündigung ohne Zustimmung – warum das Integrationsamt „Nein“ sagte
In dem entschiedenen Fall wollte eine Bank einem schwerbehinderten Mitarbeiter mit Epilepsie außerordentlich kündigen. Der Mann arbeitete seit vielen Jahren im Unternehmen, fiel aber über mehrere Jahre hinweg wegen verschiedener Erkrankungen häufig aus. Der Arbeitgeber sah keine Perspektive für ein stabiles Vollzeitarbeitsverhältnis mehr und beantragte deshalb beim Integrationsamt die Zustimmung zur fristlosen Kündigung mit sozialer Auslauffrist.
Das Inklusionsamt (in Bayern der Begriff für das Integrationsamt) prüfte den Fall genau und lehnte die Zustimmung ab. Es stellte fest, dass ein Teil der Fehlzeiten im Zusammenhang mit der anerkannten Behinderung stand und der Beschäftigte deshalb ein besonders hohes Schutzniveau genießt. Außerdem sah die Behörde keine hinreichend sichere negative Gesundheitsprognose und bemängelte, dass der Arbeitgeber nicht alle Möglichkeiten zur Prävention und Unterstützung ausgeschöpft hatte.
Der Fall: Langjährige Beschäftigung, Epilepsie und viele Fehlzeiten
Der betroffene Arbeitnehmer war seit 2002 als Bankkaufmann beschäftigt und hatte einen anerkannten Grad der Behinderung von 50 wegen eines Anfallsleidens. In den letzten Jahren vor der Kündigungsabsicht häuften sich seine Fehlzeiten, teils wegen Infekten, teils wegen Operationen und Folgen von Sportunfällen, teils wegen Medikamentenumstellungen.
Der Arbeitgeber verlegte ihn auf einen leidensgerechten Arbeitsplatz und führte mehrere Gespräche und Versuche zur Wiedereingliederung durch. Trotzdem blieben die Fehlzeiten hoch, und der Betriebsarzt sprach nach einem kurzen Kontakt von einer ungünstigen Prognose.
Der Arbeitnehmer legte dagegen mehrere Atteste seiner behandelnden Fachärzte vor, die ihm eine Vollzeittätigkeit und eine positive Gesundheitsprognose bescheinigten. Er betonte, dass viele Langzeitausfälle auf einmalige Ereignisse wie eine schwere Infektion oder einen Radunfall zurückgingen, die inzwischen ausgeheilt seien.
Integrationsamt stärkt Schwerbehindertenschutz: Interessenabwägung mit hohem Maßstab
Das Integrationsamt / Inklusionamt stellte bei seiner Entscheidung die Frage in den Mittelpunkt, wie stark die beabsichtigte Kündigung mit der Schwerbehinderung zusammenhängt.
Weil zumindest ein Teil der Fehlzeiten auf die Epilepsie und deren Behandlung zurückzuführen war, nahm die Behörde einen deutlichen Zusammenhang an. Das erhöht das Schutzniveau und zwingt zu einer besonders sorgfältigen Abwägung zwischen den Interessen des Arbeitgebers und Ihrem Interesse an einem sicheren Arbeitsplatz.
Die Behörde erkannte zwar die wirtschaftliche Belastung und die betrieblichen Schwierigkeiten der Bank an. Sie stellte aber ebenso fest, dass der Beschäftigte seit über 17 Jahren im Unternehmen tätig war, ein fortgeschrittenes Alter hatte und wegen seiner Behinderung schwerer einen neuen, passenden Arbeitsplatz finden würde. Diese Sozialdaten wogen nach Auffassung des Integrationsamts schwerer als das Lösungsinteresse des Arbeitgebers.
Gericht bestätigt Ermessensspielraum: Integrationsamt entscheidet nicht willkürlich
Der Arbeitgeber akzeptierte die Ablehnung nicht und klagte. Er verlangte, dass das Integrationsamt / Inklusionsamt erneut über die Zustimmung zur Kündigung entscheidet, scheiterte damit aber vor dem Verwaltungsgericht München.
Das Gericht prüfte ausdrücklich nicht, ob es selbst die Kündigung für richtig oder falsch gefunden hätte, sondern nur, ob das Integrationsamt sein Ermessen korrekt ausgeübt hatte.
Nach der Verwaltungsgerichtsordnung darf das Gericht die Ermessensentscheidung der Behörde nicht einfach durch eine eigene ersetzen. Es kontrolliert nur, ob die Behörde den Sachverhalt ausreichend aufklärt, alle wesentlichen Gesichtspunkte in die Abwägung einbezieht und keine sachfremden Kriterien berücksichtigt. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass das Integrationsamt sorgfältig gearbeitet, die widerstreitenden Interessen erkannt und vertretbar gewichtet hatte.
Kein „zweites Arbeitsgericht“: Integrationsamt prüft Schwerbehindertenfürsorge
Das Gericht stellte klar, dass das Zustimmungsverfahren nach §§ 168 ff. SGB IX keinen „zweiten Kündigungsschutzprozess“ schafft. Das Integrationsamt kontrolliert nicht umfassend, ob eine Kündigung arbeitsrechtlich wirksam ist. Dafür bleiben weiter die Arbeitsgerichte zuständig, wenn Sie gegen eine Kündigung klagen.
Das Integrationsamt / Inklusionsamt konzentriert sich auf Fragen der Schwerbehindertenfürsorge. Es prüft, ob Ihre Behinderung die Kündigung mitverursacht, ob Arbeitgeber und Behörden alle zumutbaren Hilfen und Förderungen ausgeschöpft haben und ob die Kündigung aus Sicht des besonderen Schutzes schwerbehinderter Menschen wirklich notwendig erscheint. Nur wenn schwerbehindertenrechtliche Gründe einer Kündigung nicht entgegenstehen, darf es die Zustimmung erteilen.
Prävention und BEM: Versäumte Chancen fallen dem Arbeitgeber auf die Füße
Im Verfahren fiel besonders ins Gewicht, dass der Arbeitgeber kein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX eingeleitet hatte. Ein solches Verfahren soll frühzeitig eingreifen, wenn sich Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis abzeichnen, und gemeinsam mit allen Beteiligten Lösungen erarbeiten. Nach Auffassung des Integrationsamts hätte eine rechtzeitige Prävention möglicherweise geholfen, die Kündigung zu vermeiden.
Auch das betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) spielte eine wichtige Rolle. Zwar führte der Arbeitgeber BEM-Gespräche, zog aber weder das Inklusionsamt noch den Integrationsfachdienst hinzu, obwohl dies sinnvoll gewesen wäre. Das Gericht bestätigte, dass Prävention und BEM zwar keine formalen Voraussetzungen für die Wirksamkeit der Zustimmungsentscheidung darstellen, ihr Fehlen aber zulasten des Arbeitgebers in die Interessenabwägung einfließen darf, wenn sie bei ordentlicher Durchführung eine Kündigung hätten verhindern können.
Bedeutung für Betroffene: Stärkerer Kündigungsschutz bei behinderungsbedingten Fehlzeiten
Das Urteil stärkt Ihre Position, wenn Ihr Arbeitgeber eine außerordentliche Kündigung plant und sich dabei auf krankheitsbedingte Fehlzeiten stützt. Je enger Ihre Fehlzeiten mit der anerkannten Behinderung zusammenhängen, desto höher fällt Ihr Schutzniveau aus. Das Integrationsamt muss dann sehr genau hinsehen, ob die Kündigung wirklich das letzte Mittel darstellt.
Wichtig ist auch, dass einmalige Ereignisse wie Unfälle, größere Operationen oder eine schwere Infektion nicht automatisch eine dauerhaft negative Gesundheitsprognose beweisen. In dem Fall überzeugten die Facharztatteste, die eine positive Entwicklung bescheinigten, mehr als eine sehr knappe mündliche Einschätzung des Betriebsarztes.
Für Sie bedeutet das: Klare medizinische Stellungnahmen Ihrer behandelnden Ärzte haben Gewicht und können Ihren Arbeitsplatz schützen.
Drei Beispiele aus der Praxis: Wie das Urteil Ihnen indirekt helfen kann
Stellen Sie sich vor, Sie haben eine psychische Erkrankung und fallen über längere Zeiträume immer wieder aus, zum Beispiel wegen Klinikaufenthalten und Reha-Maßnahmen. Ihr Arbeitgeber möchte außerordentlich kündigen, ohne zuvor ernsthaft ein BEM oder ein Präventionsverfahren durchzuführen oder externe Hilfen wie den Integrationsfachdienst einzubeziehen. In einer solchen Konstellation kann das Integrationsamt die Zustimmung verweigern, weil der Arbeitgeber nicht alle zumutbaren Möglichkeiten ausgeschöpft hat, Ihren Arbeitsplatz zu erhalten.
In einem zweiten Beispiel arbeiten Sie als Rollstuhlnutzerin in der Sachbearbeitung, Ihr Unternehmen baut um und begründet eine Kündigung mit angeblich nicht mehr passender Tätigkeit.
Das Integrationsamt kann verlangen, dass der Arbeitgeber zunächst prüft, ob er einen anderen leidensgerechten Arbeitsplatz anbieten oder den bisherigen Arbeitsplatz barrierefrei anpassen kann, etwa durch technische Hilfen oder Umorganisation. Erst wenn diese Optionen ernsthaft geprüft und als unzumutbar verworfen wurden, rückt eine Zustimmung zur Kündigung überhaupt näher.
Im dritten Beispiel sind Sie hörbehindert und machen wegen schlechter Akustik im Großraumbüro und fehlender Technik gehäuft Fehler, die der Arbeitgeber als Kündigungsgrund anführt.
Das Integrationsamt kann hier deutlich machen, dass zunächst Hilfsmittel wie geeignete Headsets, akustische Verbesserungen, technische Verstärker oder ein ruhigerer Arbeitsplatz nötig sind, bevor eine Kündigung überhaupt in Betracht kommt. Das Urteil unterstreicht, dass das Integrationsamt gerade solche behinderungsbedingten Aspekte in den Mittelpunkt stellt und nicht vorschnell die Seite des Arbeitgebers einnimmt.
FAQ: Häufige Fragen zum Kündigungsschutz schwerbehinderter Menschen
Wann braucht mein Arbeitgeber die Zustimmung des Integrationsamts zur Kündigung?
Die Zustimmung ist immer erforderlich, wenn Ihr Arbeitgeber einem schwerbehinderten Menschen oder einem Gleichgestellten kündigen will und Sie zum Zeitpunkt der Kündigung den besonderen Kündigungsschutz nach §§ 168 ff. SGB IX genießen. Das gilt sowohl für ordentliche Kündigungen als auch für außerordentliche Kündigungen, also fristlose Kündigungen mit oder ohne Auslauffrist.
Prüft das Integrationsamt, ob die Kündigung arbeitsrechtlich wirksam ist?
Das Integrationsamt ersetzt kein Arbeitsgericht und entscheidet nicht abschließend darüber, ob die Kündigung arbeitsrechtlich zulässig ist. Es prüft speziell, ob schwerbehindertenrechtliche Gründe der Kündigung entgegenstehen und ob der Schutz schwerbehinderter Menschen Vorrang vor dem Beendigungswunsch des Arbeitgebers haben soll.
Welche Rolle spielen BEM und Prävention bei der Entscheidung?
Das Gericht hat bestätigt, dass weder das BEM noch das Präventionsverfahren strenge Wirksamkeitsvoraussetzungen für die Entscheidung des Integrationsamts darstellen. Trotzdem kann das Integrationsamt dem Arbeitgeber anlasten, wenn er diese Instrumente nicht oder nur halbherzig nutzt, obwohl sie mit hoher Wahrscheinlichkeit geholfen hätten, eine Kündigung zu vermeiden.
Wie kann ich mich schützen, wenn mein Arbeitgeber meine Kündigung beim Integrationsamt beantragt?
Sie sollten möglichst früh Ihre Schwerbehindertenvertretung, den Personalrat oder Betriebsrat und bei Bedarf Rechtsberatung einschalten und Ihre Sicht der Dinge schriftlich gegenüber dem Integrationsamt schildern. Zusätzlich stärken aussagekräftige ärztliche Atteste Ihrer behandelnden Fachärzte Ihre Position, insbesondere wenn sie eine realistische und positive Gesundheitsprognose enthalten.
Gilt diese Rechtsprechung nur für Epilepsie oder auch für andere Behinderungen?
Die Grundsätze des Urteils mit dem Aktenzeichen M 15 K 19.4028 gelten unabhängig von der konkreten Behinderung, solange ein Zusammenhang zwischen dem Kündigungsgrund und Ihrer Schwerbehinderung besteht. Entscheidend ist, dass das Integrationsamt Ihre behinderungsbedingten Nachteile ausgleicht und prüft, ob der Arbeitgeber alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um Ihren Arbeitsplatz zu erhalten.
Fazit: Das Urteil ist ein deutliches Signal zugunsten Ihres Arbeitsplatzes
Die Entscheidung zeigt, dass Integrationsämter und Gerichte den besonderen Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen ernst nehmen und Arbeitgeber nicht leichtfertig aus der Verantwortung entlassen. Wer frühzeitig Präventionsangebote nutzt, das BEM aktiv mitgestaltet und klare medizinische Stellungnahmen einholt, verbessert seine Chancen, den eigenen Arbeitsplatz zu sichern.
Für Sie bedeutet das Urteil: Sie dürfen vom Integrationsamt erwarten, dass es genau hinschaut, nach Lösungen sucht und eine Kündigung nur dann mitträgt, wenn wirklich alle anderen Wege ausgeschöpft sind.




