Jobcenter dürfen von Bürgergeld-Empfängern nichts Unmögliches abverlangen

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Wenn von einer Bürgergeld-Leistungsempfängerin vom Jobcenter etwas subjektiv Unmögliches verlangt wird, so ist eine Mitwirkungsobliegenheit zu verneinen.

Eine Versagung/Entziehung von Bürgergeld/ Grundsicherung ist immer rechtswidrig bei Überschreitung der Mitwirkung des Leistungsempfängers (in Anlehnung an LSG NSB L 7 AS 772/07 ER – Orientierungssatz Detlef Brock).

Leitsätze aus dem Urteil

1. Wird einer Bürgergeldempfängerin das ALG II entzogen wegen fehlender Mitwirkung, ist der in § 66 Abs. 3 SGB 1 vorgesehene schriftliche Hinweis eine zwingende formelle Voraussetzung.

2. Dieser Hinweis des Jobcenters muss die notwendige Bestimmtheit aufweisen, damit der zur Mitwirkung Aufgeforderte eindeutig erkennen kann, was ihm bei Unterlassung der Mitwirkung droht.

Ein lediglich allgemeiner Hinweis auf die Mitwirkungsvorschriften in den §§ 60 ff. SGB I und der Möglichkeit , die Leistungen ganz zu versagen, reicht dafür nicht.

3. Fordert das Jobcenter von einer Leistungsempfängerin etwas subjektiv Unmögliches, so ist eine Mitwirkungsobliegenheit zu verneinen.

So entschieden vom LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 16.06.2022 – L 29 AS 520/22 B ER –

Leistungen für Unterkunft und Heizung – Entziehung – Hinweispflicht – Sanktionswirkung – Betriebskostenabrechnung

Sozialleistungen dürfen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt oder entzogen werden, nachdem der oder die Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden und der Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm/ihr gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist.

Hinweispflicht des Jobcenters zwingend notwendig

Der schriftliche Hinweis nach § 66 Abs. 3 SGB I muss Ausführungen darüber enthalten, aufgrund welcher Umstände im Einzelfall ein Mitwirkungsversäumnis bei der Sozialleistungsempfängerin vorliegt und welche rechtlichen Konsequenzen das für sie haben kann (BSG, Urteil vom 12. Oktober 2018 – B 9 SB 1/17 R -).

Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Leistungsentziehung

Bestehen nach Auffassung des Senats deshalb, weil die Antragstellerin lediglich Untermieterin ist und die Betriebs- und Heizkostenabrechnungen gegenüber dem Hauptmieter (ihrem Vater) erfolgen.

§ 65 Abs. 1 Nr. 2 SGB I

Nach dieser Rechtsnorm bestehen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 64 SGB I nicht, soweit ihre Erfüllung den Betroffenen aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden kann.

Dies ist regelmäßig dann der Fall, wenn die Anforderung von Unterlagen private Dritte betrifft, die nicht am Sozialleistungsverhältnis beteiligt sind.

Auskunftspflichten Dritter – Vorlage von Unterlagen Dritter

Denn Auskunftspflichten, die Dritte betreffen, erstrecken sich – nur auf Tatsachen, die dem Leistungsempfänger oder der Leistungsempfängerin selbst bekannt sind.

Keine Ermittlungspflicht des Bürgergeldempfängers

Denn grundsätzlich besteht keine Ermittlungspflicht der Leistungsempfängerin gegenüber Dritten.

Sie muss sich grundsätzlich auch keine Erkenntnisse verschaffen.

Daraus folgt, dass regelhaft keine Verpflichtung besteht, Beweismittel von privaten Dritten zu beschaffen und vorzulegen.

Dies muss insbesondere dann gelten, wenn der betreffende Dritte ( Vater ) es abgelehnt hat, entsprechende Angaben zu machen.

Wenn von einer Leistungsempfängerin etwas subjektiv Unmögliches verlangt wird, kann von einer Mitwirkungsobliegenheit im Sinne des § 60 Abs. 1 SGB I nicht ausgegangen werden (vgl. Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 14. Januar 2008 – L 7 AS 772/07 ER -).

Fazit

So lag der Fall hier, jedenfalls macht die Antragstellerin geltend, die in Rede stehende Betriebs- und Heizkostenabrechnung von ihrem Vater nicht zu erhalten.

Das Gericht weist das Jobcenter auf Folgendes hin

Auf die Vorschrift des § 60 SGB II, wonach das Jobcenter für entscheidungserheblich erachtete Auskünfte direkt von Dritten erlangen kann.

Anmerkung Sozialrechtsexperte Detlef Brock

Eine Versagung/Entziehung von Bürgergeld ist rechtswidrig, wenn von der Leistungsempfängerin die Vorlage der Betriebskostenabrechnung verlangt wird, doch ihr Vater nicht bereit ist diese auszuhändigen.

In so einem Fall ist das Jobcenter auf § 60 SGB II zu verweisen – Auskunftspflicht und Mitwirkungspflicht Dritter

Hinweis des LSG BB – Sanktionswirkung

Fraglich war für das Gericht, ob hier der dauerhaften Leistungsentziehung für die Zukunft nicht Sanktionswirkung beikommt.

Denn obwohl die Versagung von Leistungen keinen Sanktionscharakter haben soll (Mrozynski, Kommentar zum SGB I, 6. Aufl. § 66 Rn. 1 m.w.N.), weil es vielmehr im Kern um die Klärung des Leistungsanspruchs geht (vgl. § 60 Abs. 1 Nr. 1 SGB I).

Schlussbemerkung

Sehr guter Hinweis des Gerichts, denn in Wirklichkeit sieht es manchmal so aus, als das bei Versagungsbescheiden zugleich eine Sanktion ausgesprochen wird, was aber das Gesetz nicht her gibt, meint der Sozialrechtsexperte Detlef Brock.

Denn zu oft werden Leistungen gleich gänzlich versagt, obwohl das Jobcenter hier nach dem Gesetz ihr Ermessen ausüben darf und muss, eine teilweise Versagung von ALG II ist nämlich auch möglich.

Bei einer solchen Ermessensentscheidung ist die (sog. Sanktions-) Entscheidung des BVerfG vom 05.11.2019 – 1 BvL 7/16 zu berücksichtigen, zumal anders als bei sog. Sanktionsentscheidungen (§ 31a Abs. 3 SGB II in der bis zum 31.12.2022 geltenden Fassung) bei einer vollständigen Entziehung von existenzsichernden Leistungen keine Erbringung von Sachleistungen oder geldwerter Leistungen gesetzlich vorgesehen ist.

Und auch nach dem Inkrafttreten des sog. Bürgergeld-Gesetzes vom 16.12.2022 (BGBl. I S. 2328) „Leistungsminderungen“ (Kapitel 3 Abschnitt 2 Unterabschnitt 2 SGB II) ab Januar 2023 weiterhin auf insgesamt 30 Prozent des maßgeblichen Regelbedarfs begrenzt sind (vgl. z.B. § 31a Abs. 1 Satz 3, Abs. 4 SGB II).

Müssen Bürgergeldbezieher Nachweise/ Unterlagen von Dritten vorlegen?

Nach alter Rechtsprechung zu Hart IV – Zeiten aber auch nach ganz aktueller Rechtsprechung zum Bürgergeld besteht keine Vorlage von Unterlagen von Dritten.

LSG NRW, Beschluss v. 11.07.2024 – L 21 AS 486/24 B ER – und – L 21 AS 487/24 B –

Linktipp: Versagungsbescheid des Jobcenters rechtswidrig, denn Leistungsbezieher müssen keine Unterlagen von Dritten vorlegen.