Anrechnung von fiktivem Unterhaltsvorschuss bei fehlender Mitwirkung – rechtswidrig
Das Jobcenter darf einer allein erziehenden Mutter mit 2 Kindern nicht das Bürgergeld entziehen bzw. versagen wegen fehlender Mitwirkung beim Antrag auf Unterhaltsvorschuss für ihre beiden Kinder. Das ist eindeutig rechtswidrig so das Landessozialgericht Niedersachsen – Bremen.
Eine Leistungsablehnung nach § 1 Abs. 3 Unterhaltsvorschussgesetz (UVG) stellt keine Entziehung oder Versagung iSd § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II dar.
Denn hier hatte die Mutter einen Antrag bei der Unterhaltsvorschusskasse gestellt, dieser wurde aber mangels Mitwirkung versagt, weil sie bei der Feststellung der Vaterschaft des anderen Elternteils nicht mitwirkte – § 1 Abs. 3 UVG ( vgl. dazu LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 8. Juni 2017 – L 6 AS 78/17 B ER – ).
Der Leistungsträger nach dem UVG hat die Möglichkeit, den Unterhaltsvorschuss in der Sache abzulehnen, wenn der beantragende Elternteil bei der Feststellung der Vaterschaft des anderen Elternteils nicht mitwirkt. Genau so hier lag der Fall.
Denn eine Nachholung der Mitwirkung sieht das Gesetz zum Unterhaltsvorschuss aber nicht vor.
Keine Anrechnung von fiktivem Einkommen – hier Unterhaltsvorschuss – Jobcenter rechnete fiktiven Betrag an – rechtswidrig
Die Anrechnung einer fiktiven Einnahme zur Bedarfsminderung ist nach dem System des SGB II ausgeschlossen (so auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. April 2014 – L 32 AS 623/14 B ER – ).
Das LSG NSB stellte mit Urteil vom 20.12.2019 – L 9 AS 538/19 – fest
Unterhaltsvorschuss muss tatsächlich zufließen auf das Konto – Die Anrechnung von fiktivem Einkommen verstößt gegen den Bedarfsdeckungsgrundsatz
1. Der Unterhaltsvorschuss ist nicht an den Vorschriften der Einkommensanrechnung zu messen, wenn er nicht zufließt.
2. Wenn ein Leistungsbezieher einen Antrag auf Unterhaltsvorschuss stellt, dieser versagt wird wegen fehlender Mitwirkung und eine Nachholung der Mitwirkung beim Unterhaltsvorschuss gesetzlich nicht möglich ist,
Dauerhafte Leistungsgewährung unterhalb des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums ist rechtswidrig
darf der Leistungsempfänger nicht dauerhaft unter das Existenzminimum gedrückt werden, weil der Versagungs bzw. Entziehungsbescheid des Jobcenters bestand hätte und somit eindeutig rechtswidrig ist.
” Es läge mithin eine nicht hinnehmbare dauerhafte Leistungsgewährung unterhalb des verfassungsrechtlich garantierten Existenzminimums vor”
Weil die Unterhaltsvorschussstelle die Leistungen nach § 1 Abs. 3 UVG abgelehnt hat, kann das Jobcenter nicht nach § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II Leistungen nach dem SGB II teilweise entziehen bzw. versagen.
Anmerkung Sozialrechtsexperte Detlef Brock
Super, super Urteil des LSG NSB, denn hier konnte sich die alleinerziehende Mutter überhaupt nicht währen – Im Gegenteil, sie verklagte das Jobcenter und bekam mittels anwaltlicher Hilfe recht.
Eine Anrechnung von fiktiven Einkommen wie Unterhaltsvorschuss oder Kindergeld, welches gar nicht den Kindern zufließt, stellt kein anrechenbares Einkommen dar, denn
Nur tatsächliches Einkommen darf im SGB II angerechnet werden
Als Anspruch nach dem SGB II sind nur die ihnen tatsächlich zur Verfügung stehenden Einkünfte als Einkommen zu berücksichtigen ( ständige BSG Rechtsprechung ).
Was kann man Betroffenen raten?
Sobald Ihnen Leistungen von Dritten wie Familienkasse, Kinderzuschlag oder Unterhaltsvorschusskasse nicht tatsächlich Monat für Monat zufließen, darf ihnen das Jobcenter kein fiktives Einkommen anrechnen, denn dieses kennt das SGB II nicht.
Sofort Widerspruch bei Versagung von ALG II wegen fehlender Mitwirkung
Werden die ALG II Leistungen wegen fehlender Beantragung dieser Leistungen und fehlender Mitwirkung teilweise oder ganz versagt, muss sofort Widerspruch eingelegt werden.
Wird diesem nicht innerhalb einer relativ kurzen Frist entsprochen ( denn hier leben sie gerade weit unter dem Existenzminimum ), sofort Eilklage beim Sozialgericht.
Die Rechtsgrundlagen gestalten sich in so einem Fall sehr schwierig § 5 Abs, 3 SGB II, § 66 Abs. 1 SGB II, weshalb in so einem Fall ich dringend zu anwaltlicher Hilfe rate.
Begründung für den Widerspruch sollte so aussehen speziell beim Unterhaltsvorschuss:
1. Sie haben mir einen Unterhaltsvorschuss in Höhe von monatlich 308,00 Euro angerechnet, diesen erhalte ich aber nicht, da mir die Leistung wegen fehlender Mitwirkung versagt wurde.
Die Anrechnung des Unterhaltsvorschusses ist rechtswidrig, denn es handelt sich hier um fiktives Einkommen, welche s das SGB II nicht kennt.
2. Der Regelungsbereich des § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II ist nur dann eröffnet, wenn der Leistungsempfänger trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht stellt und stattdessen das Jobcenter einen solchen Antrag stellt.
3. Stellt der Leistungsempfänger den Antrag hingegen selbst, ist die Regelung nicht anwendbar. Dabei kommt es nicht darauf an, ob die Antragstellung aus freien Stücken oder nach Aufforderung des Jobcenters erfolgt war ( so ausdrücklich LSG NSB, mit Urteil vom 20.12.2019 – L 9 AS 538/19 -; ganz aktuell LSG Sachsen, Beschluss v. 03.01.2024 – L 4 AS 567/23 B ER – ).
4. Eine Leistungsablehnung nach § 1 Abs. 3 UVG stellt keine Entziehung oder Versagung iSd § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II dar.
Rechtstipp vom Sozialrechtsexperten Detlef Brock
Sächsisches LSG, Beschluss v. 03.01.2024 – L 4 AS 567/23 B ER
Bürgergeldempfänger für ihr Verhalten zu bestrafen, ist nicht Sinn und Zweck des § 5 Abs. 3 SGB II.
Denn eine Mitwirkungsaufforderung des JobCenters ( bei der Familienkasse Antrag auf Kinderzuschlag zu stellen) muss auf die konkret geforderte Mitwirkungshandlung und die von der Behörde im Falle fehlender Mitwirkung konkret beabsichtigte Reaktion hinweisen ( Leitsatz Sozialrechtsexperte Detlef Brock)
Leitsätze ( Gericht )
1. Die nach § 5 Abs. 3 Satz 4 SGB II geforderte Rechtsfolgenbelehrung unterliegt den gleichen strengen Anforderungen wie der in § 66 Abs. 3 SGB I vorgesehene schriftliche Hinweis auf die Rechtsfolgen unterlassener Mitwirkung.
2. Jedenfalls über den Umfang der Versagung oder Entziehung nach § 5 Abs. 3 Satz 3 SGB II bedarf es einer Ermessensentscheidung des Jobcenters (wie Sächsisches LSG, Beschluss vom 06.01.2023 – L 7 AS 591/22 B ER – juris Rn. 31).
Aktualisierung vom 02.08.2024 – SG Berlin, Beschluss vom 29.07.2024 – S 127 AS 3296/24 ER –
Bürgergeld: Das Jobcenter darf kein Bürgergeld versagen oder entziehen, wenn der Rentenantrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente versagt wurde.
Das Jobcenter muss zur Rentenantragstellung aufgefordert haben!
Denn nach dem Wortlaut des § 5 SGB II ist das nur möglich, wenn ein Antrag des Jobcenters vorliegt; dies setzt voraus, dass das Jobcenter zur Antragstellung auffordert und dieser Antrag nicht erfolgt.
Auch keine Versagung von Bürgergeld, wenn der Leistungsbezieher den Antrag selbst gestellt hat
Auch wenn ein selbst gestellter Antrag abgelehnt wird, ist der Anwendungsbereich für eine Versagung bzw. Entziehung nicht eröffnet.
Leistungsempfängerin hat keinen bestandskräftigen Versagungsbescheid des Rentenversicherungsträgers erhalten
Vorliegend mangelt es nach Auffassung der Kammer schon an einem bestandskräftigem Versagungsbescheid des Rententrägers.
Dazu das SG Berlin:
“Nach § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II sind Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ganz oder teilweise so lange zu entziehen oder zu versagen, bis die Leistungsberechtigte Person ihren Mitwirkungsverpflichtungen gegenüber dem anderen Träger nachgekommen ist, wenn Leistungen aufgrund eines Antrages nach S. 1 von einem anderen Träger nach § 66 SGB I bestandskräftig entzogen oder versagt worden sind.
Nach S. 1 der Vorschrift können Leistungsträger nach diesem Buch den Antrag stellen, wenn Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht stellen.
Vorliegend hat aber nicht das Jobcenter, sondern die Antragstellerin- selbst den Antrag bei der Rentenversicherung gestellt, sodass die Voraussetzungen des § 5 Abs. 3 S. 3 SGB II schon nach seinem Wortlaut keine Anwendung finden. Daher waren die Leistungen nach dem SGB II weiter zu zahlen.
Anmerkung Sozialrechtsexperte Detlef Brock:
Hier war durch das Jobcenter auch eine ordnungsgemäße Belehrung der Hilfebedürftigen zu den Voraussetzungen des § 5 Abs. 3 SGB II unterlassen worden! ( vgl. dazu LSG Sachsen- L 4 AS 567/23 B ER –
Die nach § 5 Abs. 3 Satz 4 SGB II geforderte Rechtsfolgenbelehrung unterliegt den gleichen strengen Anforderungen wie der in § 66 Abs. 3 SGB I vorgesehene schriftliche Hinweis auf die Rechtsfolgen unterlassener Mitwirkung).
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Detlef Brock ist Redakteur bei Gegen-Hartz.de und beim Sozialverein Tacheles e.V. Bekannt ist er aus dem Sozialticker und später aus dem Forum von Tacheles unter dem Namen “Willi2”. Er erstellt einmal wöchentlich den Rechtsticker bei Tacheles. Sein Wissen zum Sozialrecht hat er sich autodidaktisch seit nunmehr 17 Jahren angeeignet.