Erwerbsminderung: Daran scheitern viele EM-Anträge

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Viele Anträge auf Erwerbsminderungsrente scheitern nicht daran, dass die Erkrankung „zu leicht“ wäre, sondern daran, dass Gutachten die Tür für eine Besserung offenlassen – oder eine positive Prognose behaupten, ohne sie sauber zu begründen.

Wer das nicht früh erkennt, kämpft im Widerspruch am falschen Ende: gegen Diagnosen statt gegen die rentenrechtliche Kernfrage, ob die Leistungsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt voraussichtlich für längere Zeit erheblich eingeschränkt bleibt.

Erwerbsminderung ist eine Stundenfrage – plus Prognose

Die Erwerbsminderungsrente knüpft nicht an einzelne Krankheitsbilder an, sondern an die Fähigkeit, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zu arbeiten. Entscheidend ist, ob Betroffene unter 6 Stunden täglich (teilweise Erwerbsminderung) oder unter 3 Stunden täglich (volle Erwerbsminderung) leistungsfähig sind – und ob dieser Zustand „auf nicht absehbare Zeit“ besteht.

„Auf nicht absehbare Zeit“ heißt: Blick nach vorn, nicht Blick zurück

Ein häufiger Denkfehler ist, die Dauerhaftigkeit aus der Vergangenheit abzuleiten („Ich bin seit Monaten krank, also ist es dauerhaft“). Rentenrechtlich geht es primär um die Prognose: „Auf nicht absehbare Zeit“ wird in der Praxis so verstanden, dass zu erwarten ist, dass die Einschränkungen noch mindestens sechs Monate bestehen werden. Es zählt also der begründete Blick in die Zukunft.

Das macht Gutachten so mächtig: Sie entscheiden nicht nur über den aktuellen Status, sondern darüber, ob aus Sicht der Rentenversicherung ein relevanter Leistungsgewinn innerhalb eines überschaubaren Zeitraums realistisch ist.

Warum „Besserung nicht ausgeschlossen“ im Gutachten oft zum K.-o.-Kriterium wird

Gutachter formulieren häufig medizinisch vorsichtig. Sätze wie „Verlauf abzuwarten“, „Therapieoptionen bestehen“ oder „Besserung nicht ausgeschlossen“ sind fachlich nicht automatisch falsch – rentenrechtlich können sie aber reichen, um die Prognose gegen den Antragsteller zu drehen.

Wichtig ist dabei die Unterscheidung: Nicht jede theoretische Möglichkeit ist eine tragfähige Prognose. Eine positive Entwicklung muss plausibel aus Befunden, Verlauf und realistischen Behandlungsoptionen hergeleitet werden. Wo das fehlt, ist das ein Angriffspunkt – nicht „Gefühl“, sondern Begründungsdefizit.

Reha vor Rente: Der Prognosehebel, den die Rentenversicherung am häufigsten nutzt

In der Praxis wird eine offene Prognose sehr oft mit dem Grundsatz „Reha vor Rente“ verbunden: Wenn eine Reha die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich bessern oder stabilisieren könnte, wird eine Erwerbsminderungsrente häufig abgelehnt oder zurückgestellt. Wer hier unvorbereitet ist, gerät in eine Schleife aus Reha-Erwartung, Nachbegutachtung und erneuter Prognoseoffenheit.

Für Betroffene heißt das nicht, dass Reha immer zwingend ist. Aber sobald im Gutachten sinngemäß steht „Reha vorrangig“ oder „therapeutische Maßnahmen ausschöpfen“, hängt der Anspruch daran, ob diese Erwartung konkret und realistisch begründet ist – und ob der bisherige Verlauf überhaupt noch einen relevanten Leistungsgewinn erwarten lässt.

Vor dem Streit um Gutachten: Stimmen die Beitragsvoraussetzungen?

Auch wenn medizinisch alles passt, kann der Anspruch an den versicherungsrechtlichen Voraussetzungen scheitern. Typisch sind die allgemeine Wartezeit (regelmäßig 5 Jahre) und in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge (mit Ausnahmen). Wer hier Lücken hat, sollte das früh prüfen – sonst wird ein Verfahren gewonnen, ohne dass am Ende ein Anspruch entsteht.

So erkennen Betroffene ein „angreifbares“ Gutachten

Ein Gutachten wird vor allem dann gefährlich, wenn es zwar ein Ergebnis behauptet („positive Prognose“), aber die Begründung dünn bleibt. Praktisch bewährt sich diese Prüfroutine:

Steht eine klare Stundenleistung drin – und ist sie nachvollziehbar aus konkreten Funktionsbeeinträchtigungen hergeleitet? Unterscheidet das Gutachten zwischen Arbeitsunfähigkeit (Krankschreibung) und Erwerbsminderung (Arbeitsmarktmaßstab)? Wird die Prognose begründet – oder nur behauptet („günstige Entwicklung zu erwarten“ ohne Verlauf und Therapien)?

Wird eine Reha-Erwartung konkret gemacht (Ziel, Wahrscheinlichkeit, Zeitraum) – oder bleibt es bei Standardfloskeln? Sind die bisherigen Therapien, Rückfälle, Abbrüche und fehlenden Effekte sauber dokumentiert – oder fehlen genau diese Verlaufsdaten?

Widerspruch: Nicht gegen die Krankheit kämpfen, sondern gegen die Prognoselogik

Im Widerspruch ist der größte Hebel selten „noch mehr Diagnosen“, sondern die Frage: Ist die positive Prognose schlüssig belegt – und passen Verlauf und Therapiegeschichte dazu? Zielführend sind vor allem Akteneinsicht und gezielte Arbeit mit den Formulierungen im Gutachten (Prognose, Reha-Erwartung, Stundenleistung).

Dazu kommen fachärztliche Verlaufsberichte, die nicht nur Diagnosen wiederholen, sondern die funktionelle Leistungsfähigkeit im Alltag über Zeit abbilden. Und es hilft, gescheiterte Behandlungen nicht als lose Aufzählung, sondern als nachvollziehbare Entwicklung zu dokumentieren: was versucht wurde, wie lange, mit welchem Ergebnis.

Klage vor dem Sozialgericht: Neue Begutachtung – aber mit realistischer Kostensicht

Das Verfahren vor dem Sozialgericht ist in der Regel gerichtskostenfrei, das heißt: Es fallen normalerweise keine Gerichtsgebühren wie in Zivilprozessen an. Das bedeutet jedoch nicht, dass es keinerlei Kosten geben kann. Eigene Anwaltskosten entstehen grundsätzlich dann, wenn keine Prozesskostenhilfe greift.

Zusätzlich kann ein Kostenrisiko entstehen, wenn ein Gutachten nach der Regel beantragt wird, die eine Begutachtung durch einen Arzt „nach Wahl“ ermöglicht: Dann wird häufig ein Kostenvorschuss verlangt, und Kosten können am Ende ganz oder teilweise beim Kläger verbleiben.

Praxisfall (kompakt): EM-Rente wegen unzureichender Prognose doch noch durchgesetzt

Joshua lebt seit Jahren mit einer Kombination aus Wirbelsäulenerkrankung, neuropathischen Schmerzen und depressiver Begleiterkrankung. Entscheidend ist weniger das Etikett der Diagnosen als die Funktion: Er kann nicht lange sitzen oder stehen, braucht Liegepausen und bricht bei kleinsten Belastungen ein. Mehrere Therapieansätze und Reha-Maßnahmen führten zu keiner stabilen Verbesserung.

Die Rentenversicherung lehnte ab, weil im Gutachten zwar eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit beschrieben, aber pauschal eine „günstige Prognose“ behauptet wurde. Im Widerspruch wurde genau diese Lücke angegriffen: fehlende Herleitung, fehlender Bezug zu Verlauf und ausgeschöpften Maßnahmen.

Vor Gericht führte ein unabhängiges Gutachten die Prognose sauber aus und ordnete Joshua dauerhaft unter drei Stunden ein. Ausschlaggebend war nicht „mehr Krankheit“, sondern die erstmals nachvollziehbar begründete Prognose.

Was Ärzte schreiben sollten – wenn es medizinisch zutrifft

Behandelnde Ärzte müssen keine „Rentenformeln“ liefern, aber sie sollten verstehen, welche Art von Aussagen die rentenrechtliche Prüfung braucht: Verlauf, Ausschöpfung von Therapien, funktionelle Einschränkungen, Stundenleistung und begründete Prognose.

Sinnvoll sind Formulierungen, die den Zukunftsblick ausdrücklich abdecken: dass innerhalb der nächsten sechs Monate keine wesentliche Verbesserung zu erwarten ist, dass leitliniengerechte Therapien ohne relevanten Effekt ausgeschöpft wurden und dass die Patientin oder der Patient unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes voraussichtlich dauerhaft nicht regelmäßig mehr als drei (oder sechs) Stunden leistungsfähig ist.

Wichtig ist die Leitplanke: Solche Aussagen sollten nur verwendet werden, wenn sie fachlich korrekt sind – sonst wird aus einer Hilfe schnell ein Glaubwürdigkeitsproblem.

FAQ mit den häufigsten Missverständnissen

Reicht eine schwere Diagnose?
Nein. Entscheidend ist die konkrete Leistungsfähigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt und die Prognose.

Wie wird „nicht absehbare Zeit“ praktisch verstanden?
Als Prognose: Es ist zu erwarten, dass die Einschränkungen noch mindestens sechs Monate bestehen.

Kann es trotz negativer Prognose eine Befristung geben?

Ja. Eine Bewilligung kann befristet erfolgen, wenn eine spätere Überprüfung vorgesehen ist – das ändert nichts daran, dass die Prognose für den Bewilligungszeitraum tragfähig begründet sein muss.

Warum verweist die Rentenversicherung so oft auf Reha?
Weil im Rentenrecht der Grundsatz gilt, Rehabilitationsmöglichkeiten vorrangig zu nutzen („Reha vor Rente“).

Ist eine Klage wirklich „ohne Kostenrisiko“?
Gerichtsgebühren fallen in der Regel nicht an, aber eigene Anwaltskosten können entstehen; und eine Begutachtung „nach Wahl“ kann ein zusätzliches Kostenrisiko auslösen.

Fazit

Bei der Erwerbsminderungsrente entscheidet selten der dramatischste Befund, sondern die sauber begründete Antwort auf zwei Fragen: Wie viele Stunden ist Arbeit unter üblichen Bedingungen realistisch möglich – und warum wird sich das voraussichtlich in den nächsten Monaten nicht wesentlich ändern?

Wer Gutachten auf Prognosefloskeln, Reha-Erwartungen und Begründungslücken abklopft, die Therapiegeschichte nachvollziehbar dokumentiert und im Widerspruch gezielt an der Prognose ansetzt, erhöht die Chancen deutlich – notfalls auch vor dem Sozialgericht, dann aber mit klarem Blick auf die tatsächlichen Kostenfallen.