"Inge Hannemann gefährdet tausende Mitarbeiter der Jobcenter", ist ein Offenbarungseid zum kompletten Versagen des "Systems Hartz IV" durch die Leitung der Bundesagentur und dies pünktlich zu dessen 10 jährigen Jubiläum.
19.06.2013
Inge Hannemann wurde einer breiten Öffentlichkeit bekannt, weil sie als Mitarbeiterin eines Jobcenters die Umsetzung des „System Hartz IV“ öffentlich kritisiert hatte. Ihre darauffolgende „ Freistellung“, löste eine breite Solidarisierungswelle aus, die die Bundesagentur nun offensichtlich zur Reaktion zwang.
In der genannten Pressemitteilung werden "drei einfache Feststellungen" getroffen, die wir uns im Folgenden einmal genauer ansehen wollen
1.: Frau Hannemann spricht bei ihrer Kampagne gegen die Grundsicherung, die Millionen von Menschen die Existenz sichert, nicht für die Belegschaft der Jobcenter. Im Gegenteil: Sie bringt ihre Kolleginnen und Kollegen in Gefahr, die sich zunehmend Aggressionen von Seiten der Kunden ausgesetzt sehen.
Dazu stellen wir nun einfach fest:
a. die Regelsätze der Grundsicherung waren nie „existenzsichernd“ und sind es nicht.
An anderer Stelle, nämlich bei der sog. Pfändungsfreigrenze, gesteht der Staat den Menschen ab dem 01.07.2013 immerhin ein Existenzminimum von 1045 € für eine alleinstehende Person zu. Seit Einführung von Hartz IV wurden die Regelsätze zwar nominal in homöopathischen Dosen erhöht, real jedoch um mehr als 10 % gekürzt. Wenn nun die zuständige Ministerin von der Leyen ankündigt, dass es in diesem Jahr keine Erhöhung geben wird, heißt das: mehr Stromsperren, mehr Zwangsräumungen, mehr Hunger, mehr Aggression … !
Frau von der Leyen folgt damit dem Rat ihrer neoliberalen „Whistleblower“, .die der Auffassung sind, dass der Leidensdruck bei den ALG II-Beziehern noch viel zu gering sei. Was dabei seit acht Jahren vergessen wird ist, dass man Niemanden mit einem noch so hohen "Leidensdruck" in einen nicht vorhandenen Arbeitsplatz prügeln kann.
Darüber hinaus bleibt fest zu halten, dass für einen alleinstehenden Erwachsenen derzeit ganze 4,52 € für Nahrungsmittel pro Tag vorgesehen sind. Für einen Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren 3,42 € !
Soweit zur "Existenzsicherung" durch "Hartz IV"!
b. Nicht Fr. Hannemann bringt ihre Kolleginnen und Kollegen in Gefahr, sondern die ständig eskalierende Verfolgungsbetreuung seitens der Jobcenter durch immer schlechter qualifizierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die selbst einem immer höheren Leistungsdruck ausgesetzt werden. Einer Million ausgesprochener Sanktionen, von denen eine Jede die Betroffenen noch weiter unter das Existenzminimum drückt, stehen jährlich zigtausende neuer Sozialgerichtsverfahren gegenüber. Die nun allseits eingeläutete "Null-Toleranz" –Parole, gegenüber angeblichen oder tatsächlichen Beleidigungen oder weitergehenden Aggressionen verschlechtern das Klima weiter.
2. Die Bundesagentur schreibt weiter:
"Frau Hannemann ist keine "Whistleblowerin", die Missstände aufdeckt, denn die behaupteten Missstände gibt es nicht – sie kann daher auch keine "Hartz IV-Rebellin" sein.“ Dazu zitieren wir aus einem Papier einer Arbeitsgruppe der Jobcenter-Leitungen NRW aus dem Jahre 2012 mit dem Titel:
"Die Arbeitssituation in den Leistungsbereichen der Jobcenter NRW"
Dort heißt es bereits auf Seite 2:
"Die Geschäftsführungen der Jobcenter haben die Grenze des Machbaren erreicht. Wenn über viele Jahre hinweg in zahlreichen Jobcentern des Landes eine Arbeitssituation im Geldleistungsbereich besteht, die
zu erheblichen finanziellen Schäden führt,
Mitarbeiter überfordert,
Kunden verärgert und
die Zielerreichung gefährdet,
dann ist für jedermann offenkundig, dass ein strukturelles Problem besteht, das nicht vor Ort von einer einzelnen Geschäftsführung gelöst werden kann."
AHA ! "Jedermann", aber nicht der Führung der Bundesagentur!
Das vollständige, sehr erhellende Papier zur Lage der Beschäftigten bei den Jobcentern NRW finden wir hier:
http://www.harald-thome.de/media/files/Endfassung-Positionspapier-Leistung-2012.03.09.pdf
Und das ist nur die Hälfte des Himmels, mindestens genauso katastrophal stellen sich die Verhältnisse im sogenannten Front-Office–Bereich dar, also denjenigen, die es direkt mit der Kundschaft zu tun haben.
3. Die Bundesagentur schreibt:
Wer in einem Jobcenter arbeitet, hat sich an Recht und Gesetz zu halten. Es kann nicht sein, dass eine Mitarbeiterin nach Gutdünken handelt und persönliche, politische Vorlieben auslebt.
Dazu stellen wir nun einfach fest: Jedem Jobcentermitarbeiter sollten folgende Gesetzestexte eingerahmt an die Wand gehängt werden:
Artikel 1 (GG)
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Artikel 2 (GG)
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
Artikel 20 (GG)
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
§ 2 SGB I Soziale Rechte
(1) (…)
(2) Die nachfolgenden sozialen Rechte sind bei der Auslegung der Vorschriften dieses Gesetzbuchs und bei der Ausübung von Ermessen zu beachten; dabei ist sicherzustellen, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden.
§ 13 SGB I Aufklärung
Die Leistungsträger, ihre Verbände und die sonstigen in diesem Gesetzbuch genannten öffentlich-rechtlichen Vereinigungen sind verpflichtet, im Rahmen ihrer Zuständigkeit die Bevölkerung über die Rechte und Pflichten nach diesem Gesetzbuch aufzuklären.
§ 14 SGB I Beratung
Jeder hat Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach diesem Gesetzbuch. Zuständig für die Beratung sind die Leistungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind.
Hätten sich in der Vergangenheit die Verantwortlichen an dieses "Recht und Gesetz" gehalten, wären auch unter der Bedingung "Hartz IV" die schlimmsten Auswüchse wahrscheinlich vermeidbar gewesen. Aber das war offensichtlich nicht gewollt.
Und schließlich schreibt die Bundesagentur:
"Frau Hannemann hat sich den falschen Beruf ausgesucht. Sie sollte nicht ihre Kolleginnen und Kollegen darunter leiden lassen."
Dazu stellen wir nun einfach fest:
Ob sich Frau Hannemann den falschen Beruf ausgesucht hat oder ob sie es mit Strukturen und Führungspersonal zu tun hat, die mit einem demokratischen Verständnis der Entwicklung der Gesellschaft wenig zu tun haben lassen wir dahingestellt. Entscheidend ist, dass alle Beteiligten Opfer eines verfehlten sozialpolitischen Experiments, genannt Hartz IV. wurden. Viele der leidenden Kolleginnen und Kollegen von Fr. Hannemann sind in der Vergangenheit den stillen, individuellen Weg des Abgangs gegangen. Den Verbliebenen und besonders den Neuen sei geraten, sich auf ihrer Arbeitnehmerrechte zu besinnen und sich zu vergegenwärtigen, dass auch sie sehr schnell auf der anderen Seite des Schreibtischs landen können.
Vor wenigen Tagen stellte der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan im Parlament angesichts der Massenproteste im Land die Frage: "Was haben wir nicht verstanden?"
Nicht nur er, sondern die politisch herrschenden Kräfte in dieser Welt haben nicht verstanden, dass nach dem vielbejubelten "Wind of change" in den Staaten des Ostblocks ein neuer "wind of change" auffrischt, der die ganzen Welt erfasst. Die Menschen streben nach einer aufgeklärten, entwickelten, sozial gerechten demokratisch ausgestalteten Gesellschaft. Was sie auf keinen Fall wollen sind staatliche Bevormundungen und Bedrückungen. Natürlich sind wir von den Stürmen, die derzeit über Südeuropa der Türkei und Brasilien fegen weit entfernt. Frau Inge Hannemann ist nur ein kleines Körnchen auf der Spitze des Eisbergs. Aber dieses Körnchen ist in Bewegung geraten und wer weiß, vielleicht wird es zu Lawine.
In diesem Sinne erklärt sich die Linke Erwerbslosen Organisation (L.E.O.) solidarisch mit Inge Hannemann sichert ihr in Zukunft ihre volle Unterstützung zu.
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