Hartz IV und die Sache mit der Brille

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Kann man jemand, nur weil er Hartz-IVEmpfänger ist, halbblind durch die Gegend stolpern lassen? Ohne passende Brille, mit schweren "Sehstörungen"? Man kann! Heute ist nichts mehr unmöglich – und gesetzlich gedeckt. Natürlich ist so ein "Sehbehinderter" auch im Straßenverkehr gefährdet – und "mit etwas Glück" wird man überfahren ….

Böse Geschichte! Der Augenarzt, den man ja mal gelegentlich aufsuchen sollte, besonders wenn man so kurzsichtig ist wie ich, schüttelt völlig verständnislos den Kopf: Wie kann man nur so durch die Gegend laufen! Un-ver-ant-wort-lich! Fünf Jahre alt – und völlig falsch ist meine “Sehhilfe”, die Brille, die ich jetzt auf der Nase habe. Die Augen haben sich erheblich verändert! Die Brille muß dringend ausgetauscht, ersetzt werden. Ärztliche Verordnung! Sonst verdirbt sie mir noch die Augen. Da ist nicht viel zu verderben.

Mit mehr als 10 Dioptrien Kurzsichtigkeit, wie das fachmännisch heißt – und zusätzlicher "Alterssichtigkeit" bin ich, optisch gesehen, ein Problemfall. Ehrlich – halbblind. Also muß eine neue Brille her. Ich gehe nicht zum Optiker, um mich untersuchen zu lassen, das soll lieber der Augenarzt machen oder seine Assistentin. 10 Euro Praxisgebühr sind ja schon bezahlt. Und da habe ich einfach mehr Vertrauen, als zu einem unterbezahlten Teilzeitangestellten beim Discount-Optiker. Das Ergebnis ist fürchterlich und steht in einer "Brillen-Verordnung": Stark kurzsichtig, habe ich doch gewußt, alterssichtig (tja, wir werden alle nicht jünger) und damit wird eine hoch-komplizierte und teure “Gleitsichtbrille” nötig. Damit ich richtig leben, laufen und sogar wieder selbst lesen kann. Das wäre toll! Es kann ja nicht so schwer sein, eine neue Brille zu bekommen. Schließlich bin ich ja krankenversichert, auch als Hartz-IV-Empfänger und seit mindestens 10 Jahren habe ich mir keine Brille mehr von der "Kasse" bezahlen lassen – eine gute Kasse, die TK, Technikerkasse. Da bin ich ja schon ein Leben lang. Habe nie große Kosten verursacht. Gute Kasse, arbeitnehmerfreundlich auch noch! Ein bißchen naiv schicke ich das Rezept vorher ein, bevor ich mich auf den Weg zu irgendeinem Optiker mache.

Ich bin wohl nicht auf dem neuesten Stand, da haben sich Gesetze geändert und eine Gesundheitsreform hat es ja auch ge- geben. Da wurde viel gestrichen …. Was da von der Kasse zurückkommt, ist zwar freundlich, aber ablehnend: Das Gesetz erlaubt es nicht, mir eine Brille zu bezahlen, auch keinen Zuschuß. Sowas gibt es nur – wenn man mit Brille nur noch 30
Prozent sieht. Nur (fast) Blinde bekommen also eine Brille – kurios! Das einzige was ich bekomme, ist ein hoch-offizieller Stempel: "KEINE ERSTATTUNG" steht jetzt auf dem Rezept. So groß, daß ich es mit der alten Brille gerade noch lesen kann. Ein freundliches Formblatt dazu: Halbblind genügt nicht, ich müßte erst fast blind sein, um eine Brille zu bekommen, die mir dann zu höchstens 30 Prozent Sehkraft verhilft …. Siehe auch: Brille muss vom Hartz IV Regelsatz bezahlt werden.

Aber man kann mich doch nicht, nur weil man kein Geld habe, halbblind durch die Gegend stolpern lassen! Doch, man kann!

Kostenbewußt kappere ich mit dem “Brillen-Verordnung” die freien Optiker ab, höre mich bei Bekannten um und hole Kostenvoranschläge bei den Discountern ein. Viel Arbeit – Mann. Was kann denn so eine Sehhilfe kosten? Ich suche, finde aber keinen billigeren, und muß mich an einen Preis von ungeheuerlichen 580 Euro gewöhnen. Volle 50 Hartz-IV-Tagessätze. Eine
ungeheuerliche Summe! Alles andere ist teurer: Kunststoffgläser sind dicker, aber leichter und noch teurer. Standard- Glas-Gläser sind so dick und gewichtig, daß sie kaum auf die Nase passen und dort eine tiefe Kerbe hinterlassen würden. Dick wie Flaschenböden, die mich für jeden sichtbar zum Seh-Behinderten machen. Ich verzichte auf eine solche Billig-Lösung, die ohnehin nur 20 bis 30 Euro Ersparnis bringen würde. Aber man kann mich doch nicht, nur weil ich kein Geld habe, entstellt und häßlich durch die Gegend stolpern lassen! Doch, man kann!

Die ARGE, Arbeitsgemeinschaft für Beschäftigung, eine GmbH, von der ich meinen monatliche Hartz-IV Zuschuß zum Überleben bekomme, hält sich da natürlich raus: Was haben wir mit einer Brille zu tun? Gar nichts. Sehen Sie selbst zu, wie Sie weiterkommen – ohne Brille! Also bleibt mir nichts übrig, als mit einer “Sehhilfe” durch die Gegend zu traben, die mir die Augen vollends verdirbt und jeden Tag die Sicht weiter erschwert und die Augen schädigt? Soll meine Gesundheits-Kasse für die entstehenden Gesundheitsschäden aufkommen?! Keiner zuständig. Überall Achselzucken! Damit muß man als Hartz IV – Empfänger heutzutage leben. Wärst Du das nicht geworden, selber schuld. Langzeitarbeitsloser, unvermittelbarer, Du.

Nun, die Brille ist nötig, nötiger als Schuhe, Kleidung, Lebensmittel. Nächsten Monat, wenn die generöse Zahlung meines ALG-II Sozialgeldes eintrifft und das Konto überläuft, muß ich davon wenigstens eine Anzahlung leisten können. Gibt es denn Brillen auch auf Raten? Muß ‘mal mit dem billigsten Optiker, den ich detektivisch finden konnte, darüber reden. Rund 580 Euro ist aber auch verdammt viel, Mann! Ich finde aber keinen billigeren – und bekomme dafür sogar noch eine Garantie! Von Fielmann.
Was das notwenige Geld für die Brille betrifft, muß ich doch eine private Quelle anzapfen. Wohl dem, der eine Familie hat, oder Verwandte. Ich jedenfalls nicht.

Aber doch wohl Freunde? Naja, im Bekannten- und Freundeskreis, sofern sich noch einige mit einem einkommensschwachen
Hartz-IV-Empfänger abgeben, sind Schicksalsgenossen. Denen geht es selbst nicht so gut. Aber ich finde eine alte Bekannte, die mir mit einem “Mikro-Kredit” in bar aushilft. Rückzahlung? Wir beide wissen, daß da nur wenig möglich ist – und vieles in den Sternen steht …

Ich bestelle die Brille – koste es was es wolle, ohne daß die Finanzierung ganz sicher wäre. Kommt Zeit, kommt Rat, vielleicht auch Geld in die Kasse …? Das Gestell der Brille? Keine Frage, das billigste was der Laden hergibt, billiger als jedes Kassengestell, schlägt mit 25 Euro zu Buche. Wer keine Wahl hat, hat auch keine Qual. Zwei Wochen dauert die Herstellung, ist
ja nicht ganz einfach diese Gläser, dieser Schliff, das Anpassen …

In meiner Not und finanziellen Verlegenheit, rede ich mit meinem Sozialberater vom AFWM. Der sieht auch keine Lösung, außer vielleicht einem Kredit, der natürlich abzustottern wäre. Bei dieser Summe, fast zwei Monate Hartz IV. Wer soll das bezahlen – ich habe trotzdem bestellt. Ich muß doch was sehen und lesen können. Vor allem die Ablehnungs-Bescheide! Wer soll mir das denn sonst vorlesen? Wer soll mich im Straßenverkehr führen, über die Fußgängerüberwege begleiten? Der Tag der Brillen- Auslieferung rückt näher, das Konto ist fast leer, genauso wie der Geldbeutel. In letzter Sekunde hole ich Bargeld, einen halben Monatssatz, aus meiner privaten Quelle. Bittsteller, Almosenempfänger, Mitleid. Aber ich habe was in der Tasche – auf dem Weg zum Optiker, 170 geliehen, auch noch 80 Euro aus eigener Tasche. Wenn das weg ist, muß ich halt eine Diät-Woche einlegen. Es gibt ja in München Nahrungsquellen, wo man ein Schmalzbrot oder sogar ein Mittagessen kostenlos bekommt – wenn man die Fahrtkosten auftreiben kann, um hinzufahren. Naja, ich bin ohnehin nicht gertenschlank, ein Hungertag pro Woche schadet keinem Hund, mir wohl auch nicht.

Mit ganzen 250 Euro in der Tasche kann ich mich schon beim Optiker sehen lassen, denke ich. Dort erwartet mich allerdings doch eine Überraschung, schon vor der Tür: Mein Sozialarbeiter vom Ambulanten Fachdienst Wohnen AFWM ist noch rechtzeitig
zur Stelle. Sympathischer Mann, viel sympathischer ist allerdings das Bargeld in seinem Portemonnaie: Volle 330 Euro hat er aufgebracht und mir mitgebracht: Aufatmen! Wir betreten den Laden, die Brille ist da, sie wird angepaßt, blankpoliert, sieht nicht einmal schlecht aus und ich sehe jetzt viel besser – und besser aus! Jetzt sehe ich die Welt mit anderen Augen …

Natürlich stottere ich den Brillenkredit monatlich ab, pünktlich am Monatsersten stehe ich beim Kassierer des AFWM auf der Matte, wenn’s auch schwerfällt. Bis zu dem Tag, als mein Sozialbeteuer mir mitteilt: Das Rest- Darlehn ist in eine Spende umgewandelt worden und wird aus einem Spendentopf finanziert. Weitere Rückzahlungen sind mir damit erlassen! Doch die meisten Hartz IV Betroffenen haben nicht so viel Glück. Sie müssen entweder "blind" durch die Gegend laufen, oder auf die Hilfe von sozial engagierten Menschen hoffen und das in einem der reichsten Länder dieser Erde! (aus Wohnen+Leben 2-09, 11.03.2009)

Haben Sie Fragen? Besuchen Sie uns im Arbeitslosengeld II Forum!

Ist das Bürgergeld besser als Hartz IV?

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