Katja Kipping: Gefangen in Armut und Hartz IV
Die Verweildauern in der Arbeitslosenhilfe und in der Sozialhilfe seien zu lang. So lautete die Kritik vor den Hartz Reformen. Das offizielle Ziel der Hartz IV Reform war die schnelle und passgenaue Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Eine aktuelle ANTWORT der Bundesregierung auf eine Anfrage der LINKEN zeigt nun, dass die Hartz-Reformen zu einer drastischen Verfestigung von Langzeitbezug geführt haben und immer mehr Erwerbslose verarmen.
Die Verweildauer von Hartz IV Leistungsberechtigten stieg gegenüber der Arbeitslosenhilfe um 270%. Während die durchschnittliche Verweildauer in der ehemaligen Arbeitslosenhilfe in 2004 bei 48 Wochen lag, stieg sie bei den Hartz IV-Leistungsberechtigten fast zehn Jahre später um 270% auf 130 Wochen (30 Monate im Dezember 2011). Knapp ein Viertel aller erwerbsfähigen Leistungsberechtigten verharrten seit 2005 im Hartz IV-System.
Die Armut unter den Erwerbslosen nimmt rapide zu. In der längeren Perspektive hat sich der Anteil der armutsgefährdeten Erwerbslosen von etwa 30% (1998) auf etwa 55% (2010) annähernd verdoppelt (Daten des SOEP). Nach den jüngsten verfügbaren Daten der Einkommensverbraucherstatistik- EVS oder EU-SILK (EU-Daten) sind zwei Drittel bis drei Viertel aller Erwerbslosen arm. Die von der Bundesregierung dokumentierten Berechnungen der OECD zeigen, dass für diese Entwicklung die Leistungskürzungen verantwortlich sind.
"Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Hartz IV ist sogar gemessen an den eigenen Ansprüchen ein Desaster. Das System drückt die Menschen in die Armut und schiebt sie auf ein Abstellgleis. Mit Strafen und Überwachen ist einfach kein Sozialstaat zu machen. Das waren zehn verlorene Jahre für die Sozialpolitik. Es wäre Zeit für eine ehrliche Bestandsaufnahme der Hartz-Reformen. Die Probleme müssen sauber voneinander getrennt werden. Für den Kampf gegen die Armut brauchen wir eine echte sanktionsfreie Mindestsicherung, ein soziales Netz, durch das wirklich niemand fällt. Und wenn wir die Menschen schneller wieder in Arbeit bringen wollen, dann brauchen wir eine Renaissance der Arbeitsmarktpolitik und eine neue Debatte über Arbeitszeitverkürzungen. Als Sofortmaßnahmen müssen wir dem Hartz-System die Giftzähne ziehen. Schluss mit dem Sanktionen, hoch mit dem Regelsatz auf 500 Euro, her mit sozialen und ethischen Kriterien für zumutbare Jobs", reagiert Katja Kipping auf die Antwort der Bundesregierung.
Erläuterungen:
Ein „Vermittlungsskandal“ der damaligen Bundesanstalt für Arbeit war der Ausgangspunkt für die Einsetzung der Hartz-Kommission. Die zentrale Kritik lautete damals: Die parallelen Systeme der Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe führen nicht zu einer Eingliederung in den Arbeitsmarkt, sie aktivieren nicht. Die Verweildauern in den beiden Systemen seien zu lang. Insbesondere die Hartz IV Reform verfolgte offiziell das „Ziel einer schnellen und passgenauen Eingliederung der Leistungsbezieher in den Arbeitsmarkt“ (vgl. die Begründung des Gesetzesentwurfs, Bundestags-Drucksache 15/1516, S. 2, 41 und passim).
Der zentrale Indikator für die angebliche Ineffizienz der Integrationserfolge von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe war die Verweildauer in den Systemen. Katja Kipping und die Fraktion Die LINKE hat mit der kleinen Anfrage die Verweildauern im Hartz IV System abgefragt und stellt diese den kritisierten früheren Sicherungssystemen gegenüber. Das Ergebnis ist eindeutig: Die Verweildauern in Hartz IV sind deutlich länger als bei den Vorgängersystemen.
Verweildauern werden statistisch auf zwei Wegen gemessen:
Die Verweildauer wird bei denjenigen Personen ermittelt, die aus dem Leistungsbezug austreten (es wird gemessen, wie lange waren diese zuvor im Leistungsbezug – Abgänge). Die Verweildauer wird zu einem Stichtag bei allen im System befindlichen Personen berechnet (es wird dann die bisherige Verweildauer im Bestand ermittelt – Bestand).
Die Bundesregierung führt für die Arbeitslosenhilfe 2004 eine durchschnittliche Verweildauer von 48 Wochen aus (bezogen auf die Abgänge – Variante 1, vgl. Frage 3). Vergleicht man die durchschnittliche Verweildauer in der Arbeitslosenhilfe mit den jüngsten verfügbaren Angaben zur durchschnittlichen Verweildauer aller Leistungsberechtigten in Hartz IV, so zeigt sich ein dramatischer Anstieg von 48 Wochen auf 130 Wochen – dies ist ein rechnerischer Anstieg von 270%.
Selbst in der Sozialhilfe war die Verweildauer 2004 kürzer als bei Hartz IV 2012, obwohl hier nicht in den Arbeitsmarkt vermittelbare erwerbsfähige Leistungsberechtigte einbezogen sind (hier allerdings bezogen auf den Bestand – Variante 2). Die Bundesregierung gibt die durchschnittliche Verweildauer im Bestand Ende 2004 mit knapp 28 Monaten an (vgl. Frage 4). Die entsprechende durchschnittliche Verweildauer aller Leistungsberechtigten bei Hartz IV liegt bei über 40 Monaten (Bestand Dezember 2011)!
Ein Einwand liegt nahe, insofern durch Hartz IV zu einem erheblichen Teil auch Personen einbezogen sind, die nicht arbeitslos sind (etwa Erwerbstätige) oder statistisch nicht als arbeitslos gelten (etwa Menschen in arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen). Diese Personen sind daher nicht ganz identisch.
Wir haben – um dieser Kritik zu begegnen – die Angaben der Bundesregierung zu den Verweildauern in der Arbeitslosenhilfe in Bezug gesetzt zu der Teilgruppe der Arbeitslosen im Hartz IV Bezug. So werden Erwerbstätige und nicht arbeitslose Personen aus dem Vergleich ausgeschlossen und ähnliche Gruppen mit einander verglichen. Das Ergebnis: Selbst für die Teilgruppe der Arbeitslosen sind die Verweildauern im Hartz IV System deutlich länger als in der früheren Arbeitslosenhilfe.
Unabhängig davon, ob nun die Abgänger aus dem System oder der Bestand betrachtet wird: Die Ergebnisse in der angeblich so ineffizienten Arbeitslosenhilfe waren deutlich besser als heute bei Hartz IV! Mit annähernd 70% war der Großteil der Abgänger in der Arbeitslosenhilfe lediglich bis zu einem Jahr im Leistungsbezug– gegenüber weniger als 50% der Arbeitslosen im Hartz IV System. Drastisch ist der Unterschied bei den Personen, die mehr als vier Jahre im Bezug gewesen sind: Bei den Abgängen in der Arbeitslosenhilfe war dies eine absolute Ausnahme – bei Hartz IV betrifft es mehr als jede/n fünfte/n Abgängerin. Noch deutlicher klaffen die Ergebnisse auseinander, wenn der Bestand zum Bezugspunkt gewählt wird. Im Bestand sind bei Hartz IV zuletzt fast die Hälfte der Arbeitslosen vier Jahre und mehr im Leistungsbezug – in der Arbeitslosenhilfe waren es Ende 2004 weniger als 10%! Gemessen an dem selbstgesetzten Ziel „schnelle und passgenaue Eingliederung“ ist Hartz IV ein Desaster.
Verarmung der Leistungsberechtigten
Offiziell weist der Hartz IV Gesetzentwurf eine ausreichende materielle Sicherung bei Arbeitslosigkeit als zweites Ziel aus (vgl. u.a. BT-Drucksache 15/1516, S. 44). Tatsächlich aber galt den Architekten der Hartz-Reformen eine auskömmliche soziale Sicherung von Erwerbslosen als „Fehlanreiz“. Erwerbsarbeit sei unter diesen Bedingungen nicht attraktiv genug.
Die soziale Absicherung für Arbeitslose wurde daher massiv reduziert. Die Einzelheiten sind bekannt: Die Bezugsdauer für das Arbeitslosengeld wurde massiv verkürzt, die Arbeitslosenhilfe abgeschafft und die neue Hartz IV Regelleistung auf Fürsorgeniveau eingeführt. Die OECD ist ein unabhängiger und seriöser Beleg für das Ausmaß der Kürzungen. Die OECD berechnet die sog. Generösität der Grundsicherungsleistungen – und anderem für Langzeiterwerbslose. Abbildung 1 in der Kleinen Anfrage (Frage 18) dokumentiert das Ergebnis der Berechnungen der OECD: Die Leistungen für Langzeitarbeitslose – das sind in Deutschland aufgrund der kurzen Bezugsdauer des Arbeitslosengelds die Leistungen nach Hartz IV – entfernen sich immer weiter von den Durchschnittslöhnen (vgl. Abb. 1 in der Kleinen Anfrage zu Frage 18). Die Grundsicherungsberechtigten werden abgehängt. Die Abbildung dokumentiert insbesondere die massiven Einschnitte im relativen Leistungsniveau durch die Hartz Gesetze seit 2003.
Das logische Ergebnis dieser Entwicklung: Die Armutsgefährdung unter den Erwerbslosen – nicht nur der Hartz IV berechtigten Erwerbslosen – nimmt dramatisch zu. In der längeren Perspektive hat sich der Anteil der armutsgefährdeten Erwerbslosen von etwa 30% (1998) auf etwa 55% (2010) annähernd verdoppelt (Daten des SOEP). Nach den jüngsten verfügbaren Daten der EVS oder EU-SILC sind zwei Drittel bis drei Viertel aller Erwerbslosen arm.
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