Jobcenter verweigerte Diabetes-Krankem Hartz IV

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Hartz IV gefährdet die Gesundheit: Jobcenter Ennepe-Ruhr zahlt Diabetes-Krankem 6 Monate kein Geld – nicht mal für dringend nötige Medikamente

13.06.2013

Selbst nach einem Gerichtsbeschluss im Eilverfahren sah sich das Jobcenter Ennepe-Ruhr-Kreis (EN)nicht an Recht und Gesetz gebunden und verweigerte – wie zuvor bereits 6 Monate – weiterhin einem an Diabetes Erkrankten die ihm von der 33. Kammer des Sozialgerichts Dortmund zugesprochene Leistung. In einem Brief forderte der Betroffene jetzt Amtsleiter Heiner Dürwald auf, die Anordnung des Sozialgerichts Dortmund vom 27. Mai durch Zahlung zu befolgen. Andernfalls wird das Jobcenter bald Besuch vom Gerichtsvollzieher bekommen.

6 Monate Gefährdung der Gesundheit eines Diabetikers
Hartz IV-Leistungen der Regionalstelle Wetter des Jobcenters EN waren bis 31. Dezember 2012 bewilligt und der Weiterbewilligungsantrag für die nächsten sechs Monate bis Ende Juli 2013 fristgerecht gestellt. Da bekommt der „Kunde“ kurzfristig, Advents-Post vom Jobcenter: Ein „Versagungsbescheid“, der ihm ab 1. Dezember 2012 die Leistungen vollständig streicht. Begründung: Er lebe in einer Bedarfsgemeinschaft mit einer Frau zusammen, die Einkommen habe. Das müsse ihm von Leistungen abgezogen werden. „Diesseits bestehen aufgrund eines anonymen Hinweises erhebliche Zweifel im Hinblick auf Ihre Hilfebedürftigkeit.“

„Bedarfsgemeinschaft“: Eine der häufigsten Unterstellungen, um Leistungen zu streichen
Zwar weist der „Kunde“ zweifelsfrei nach, dass diese Frau weder im selben Haus und schon gar nicht in seiner Wohnung lebt, auch dass er keine Kontovollmacht auf deren Bankkonto hat. Sogar einer „Inaugenscheinnahme“ seiner Wohnung stimmt er zu. Und selbst der Nachweis, dass alle vier Voraussetzungen nicht erfüllt sind, die der Gesetzgeber im SGB II festgeschrieben hat, um eine „Einstehensgemeinschaft“ zu begründen, interessiert das Jobcenter EN nicht. Offenbar ist sich die Behörde aber dann doch nicht mehr so ganz sicher, ob ihre Mutmaßung rechtlich zu halten ist. Denn plötzlich zaubert sie noch eine weitere Schutzbehauptung aus dem Hut, um die Leistungsverweigerung abzusichern. Eine Kontenausforschung habe ergeben, dass der „Kunde“ Vollmacht für das Konto seiner Mutter besitzt.

Betrugs-Mutmaßung wegen Notfall-Kontovollmacht für 75-jährige krebskranke Mutter
Rasch wird Stufe zwei der Mutmaßungen zur Leistungssperre-Begründung gezündet. Die Mutter des Jobcenter-„Kunden“ hat – wie vermutlich in den meisten Familien in Deutschland zur Vorsorge üblich – aus Altersgründen ihrem Sohn Kontovollmacht erteilt, für den Notfall dass sie gehindert ist, ihren Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Der Notfall trat schneller ein als erwartet. Im letzten Jahr erkrankte die 74-Jährige an Krebs. Da war es während mehrerer Krankenhausaufenthalte und häuslicher Rekonvaleszenz gut, dass der Sohn ihre Kontoangelegenheiten erledigen konnte. Diesen Umstand kehrte nicht nur das Jobcenter gegen ihn. Auch das inzwischen im März diesen Jahres eingeschaltete Sozialgericht Dortmund, meinte darin eine Begründung dafür entdecken zu können, dass der Kläger vom Geld seiner Mutter lebe und deshalb kein Recht auf Hartz IV-Leistungen habe.

Sozialgericht und Jobcenter sind sich einig: der „Kunde“ lebt vom Geld seiner Mutter
Inzwischen hat es am 25. Mai einen Erörterungstermin beim Sozialgericht Dortmund gegeben. Anwesend war für das Jobcenter eine Vertreterin, die ganz ungeniert erklärt, die Einzelheiten des Falles überhaupt nicht zu kennen. In ungewöhnlich langer Verhandlungsdauer von mehr als zwei Stunden befragte die Richterin den Kläger in einer Weise, dass man den Eindruck haben musste, man befände sich in einem Polizeiverhör oder Strafverfahren. Da wurden Daten, Zahlen und Fakten abgefragt, die über die summarische Prüfung im einstweiligen Rechtsschutz weit hinaus gingen und allenfalls Gegenstand eines Hauptsacheverfahrens hätten sein können. Der Kläger – von Anfang an wegen zu Ende gehender Diabetes-Medikamente sowie unter starkem psychischen Druck wegen seiner monatelangen Zahlungsunfähigkeit – musste vor dieser unvorbereiteten Befragung am Ende psychisch kapitulieren. Dies insbesondere deshalb, weil die Fragen sich großenteil auch um persönliche Dinge Dritter drehten. Über weite Strecken ging es um was, wann und warum der Kontobewegungen seiner Mutter, um deren Einnahmen, Ausgaben und damit verbundenen Zeitangaben, was nur sie selber hätte erklären können. Das war auch der einzige Fragenkomplex, in den sich die Vertreterin des Jobcenters einmischte. Ansonsten verweigerte sie jeder weiteren Einlassung.

Hilfe beim Online-Banking sei persönliche „Nutzung“ eines fremden Kontos – Abgabe von Überweisungsformularen in Papierform nicht
Die Erörterung der Frage, ob der Kläger durch Hilfestellung beim Online-Banking für seine Mutter dieses Konto persönlich „nutze“ oder nur unterstützende Hilfeleistungen für diese erbringe, nahm schließ für den nicht juristischen gesunden Menschenerstand ungeahnt absurde Züge an. Die gipfelten in der – von der vorsitzenden Richterin der 33. Kammer des Sozialgerichts Dortmund nicht widersprochenen – Feststellung der Jobcenter-Vertreterin: Wenn der Kläger, wie geschehen, via Online-Banking zu Hause für seine Mutter Überweisungen in die Computertastatur eingebe, so „nutze“ er das Konto für sich persönlich. Deshalb sei davon auszugehen, dass er vom Geld der Mutter lebe und damit kein Recht auf Hartz IV-Leistungen habe. Anders verhalte es sich, wenn er dieselbe Überweisung auf dem Bankformular ausfülle und mit der Unterschrift seiner Mutter in der Bankfiliale abgebe. Damit sei bewiesen, dass er das Konto nicht selber „nutze“. Eine allgemeinverständliche Erklärung für diese schwerlich nachvollziehbare
Begründung wollte die Juristin des Jobcenters Ennepe-Ruhrkreis nicht abgeben.

Täuschung des Gerichts durch unvollständige Akte vom Jobcenter
Die Frage bleibt unbeantwortet, ob es ein juristischer Trick war oder nur dem Chaos in der Hartz IV-Behörde geschuldet. Fakt ist aber, dass das Jobcenter dem Sozialgericht nur eine derart unvollständige Akte vorgelegt hatte, dass es weiterhin bei seiner totalen Leistungsverweigerung hätte bleiben können. In einem Zwischenbericht kam die vorsitzende Richterin der 33. Kammer deshalb zu der Überzeugung, dass im Eilverfahren – welches nur in Ausnahmefällen rückwirkende Leistungen zuerkennen könne – keine Entscheidung im Sinne der Nachforderung des Klägers ergehen könnte, weil es für den Zeitpunkt der Klageerhebung überhaupt keinen Weiterbewilligungsantrag gäbe. Wer häufiger mit Jobcentern zu tun hat, dem ist diese Schutzbehauptung nur allzu vertraut. Glücklicherweise konnte der Kläger aber den Gegenbeweis erbringen – sogar mit Schriftverkehr aus dem Jobcenter.

Beim Gerichtstermin nur noch für 1 Woche Diabetes-Medikamente – 2,5 Wochen später verweigert das Jobcenter immer noch die gerichtlich angeordnete Zahlungs-Verpflichtung

Vier Tage nach dem Gerichtstermin ging per Fax der Beschluss ein: Keine Miete und noch nicht einmal 10% der zustehenden Leistungen für die zurückliegenden Monate. Lediglich als Almosen der Regelsatz von 382,- € für die zwei Monate – „längstens jedoch bis zum 30.06.2013“. Bis zu diesem Datum sind nur noch gut zwei Wochen. Und der 52-Jährige Diabetes-Kranke hat vom Jobcenter immer noch nicht einmal die Almosen-Zuteilung des Sozialgerichts für Mai und Juni erhalten – von der Frage, wovon er ab Juli leben soll gar nicht zu reden.

Wird Jobcenter-Chef dem Steuerzahler noch Gerichtsvollzieherkosten aus der Tasche ziehen?
Seit dem 29. Mai hat der „Kunde“ mit zahlreichen Telefonaten und persönlichen Vorsprachen im Jobcenter versucht, an sein Geld zu kommen. Gleich im Eingangsbereich der Behörde wurde er abgewimmelt. Schließlich am 11. Juni kam er dann doch noch bis zum Vorgesetzten seiner Sachbearbeiterin. Das Ergebnis wie zuvor: „wir zahlen nicht“.

Inzwischen hat er an den Amtschef seines Jobcenters, Heiner D., geschrieben und ihm Gelegenheit zur Zahlung gegeben, damit dem Steuerzahler die Kosten für den Besuch des Gerichtsvollziehers erspart bleiben. Jetzt wartet die Hartz4-Plattform gespannt, ob der Verwaltungschef die Bindung an Recht und Gesetz so ernst nimmt, dass er den titulierten Rechtsanspruch gegen seine Behörde doch noch freiwillig erfüllt. Andernfalls hat der Betroffene keine andere Wahl, als unter Wahrung der Gerichtsfrist noch vor Ende des Monats Vollstreckungsantrag gegen das Jobcenter Ennepe-Ruhr-Kreis beim Gericht zu stellen. (Brigitte Vallenthin, Hartz4 Plattform)

Bild: CFalk / pixelio.de

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