Umkehr der Beweislast bei neuer Grundsicherung zu Lasten von Bürgergeld-Beziehern und mehr Bürokratie

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Die Forderung, die Beweislast beim Bezug von Bürgergeld – künftig Grundsicherung – umzukehren, hat in den vergangenen Monaten Fahrt aufgenommen. Wolfgang Steiger, Generalsekretär des CDU-Wirtschaftsrats, plädiert in einem Gastbeitrag in “Welt” für einen „Paradigmenwechsel“: Nicht mehr das Jobcenter, sondern die Betroffenen selbst sollen fortlaufend und belastbar nachweisen, dass sie sich ernsthaft um Arbeit bemühen.

Damit knüpft Steiger sichtbar an die Linie von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann an, der einen „Herbst der Reformen“ angekündigt und harsche Konsequenzen für Arbeitsverweigerung in Aussicht gestellt hatte.

Bereits im Sommer 2024 hatte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer eine Beweislastumkehr gefordert – ein Paradigmenwechselzu Lasten von Bürgergeld-Beziehern und mehr Bürokratie in den Ämtern.

Aktueller Rechtsrahmen: Ermittlungsgrundsatz und Mitwirkungspflichten

Heute gilt im Sozialverwaltungsverfahren der Untersuchungsgrundsatz: Die Behörde ermittelt den Sachverhalt von Amts wegen, bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen und hat auch entlastende Umstände zu berücksichtigen. Leistungsberechtigte müssen mitwirken, Tatsachen angeben und – auf Verlangen – Beweismittel bezeichnen, doch die Beweisführung liegt nicht pauschal bei ihnen.

Sanktionen wegen Pflichtverletzungen sind möglich, derzeit stufenweise mit 10, 20 und 30 Prozent Kürzung des Regelbedarfs. Sie stehen seit dem Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019 zudem unter verfassungsrechtlichem Vorbehalt, insbesondere mit Blick auf das Existenzminimum und die Verhältnismäßigkeit.

Von der Mitwirkung zur Dauer-Nachweispflicht

Die Beweislastumkehr würde den Grundmodus umdrehen: Aus punktuellen Mitwirkungspflichten würde eine permanente Bringschuld. Die „Bewerbung um Hilfe“ müsste regelmäßig erneuert werden, flankiert von lückenlos dokumentierten Bewerbungsaktivitäten, Absagen, Kontaktaufnahmen, Fortbildungsnachweisen und einer generellen Bereitschaft, auch in bislang ungewohntem Tätigkeitsfeld zu arbeiten.

Wer diese Kaskade an Nachweisen nicht kontinuierlich erbringt, riskiert die Kürzung oder Streichung von Leistungen. Das Konzept setzt damit auf messbare Aktivität statt auf eine behördliche Gesamtwürdigung – und verschiebt die Verantwortung für die Belegführung vollständig auf die Leistungsberechtigten.

In der politisch-strategischen Rahmung wird die Forderung oftmals mit dem Satz von Gerhard Schröder zugespitzt: „Es gibt kein Recht auf Faulheit.“ Die rechtliche Umsetzbarkeit einer echten Beweislastumkehr ist unter Fachleuten umstritten; Arbeitsmarktforscher verweisen auf erhebliche Hürden im Sozialverwaltungsrecht.

Dimensionen in Zahlen: Kein Massenphänomen

Die Debatte wird häufig mit dem Hinweis auf „Totalverweigerer“ geführt. Ein Blick in die Statistik zeigt jedoch: 2024 verzeichnete die Bundesagentur für Arbeit rund 369.200 Leistungsminderungen insgesamt; Sanktionen ausdrücklich wegen Weigerung, eine Arbeit, Ausbildung oder ein gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen oder fortzuführen, beliefen sich auf etwa 23.400 Fälle.

Zugleich gab es im Jahresdurchschnitt 2024 rund 3.987.700 erwerbsfähige Leistungsberechtigte innerhalb von etwa 5,5 Millionen Regelleistungsberechtigten.

Die Weigerungs-Sanktionen entsprechen damit etwa 0,59 Prozent beziehungsweise 5,9 je 1.000 ELB.

Bezieht man nur die rund 1,75 Millionen arbeitslosen ELB ein, ergeben sich 13,3 je 1.000.

Selbst wenn man – wie Kritiker der offiziellen Statistik nahelegen – diese Werte großzügig verdoppeln oder verdreifachen würde, läge der Anteil bei ungefähr 1,2 bis 1,8 Prozent. Ein strukturelles Massenphänomen lässt sich damit nicht belegen.

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Praxisfolgen: Dokumentationsdruck, Ermessensspielräume und neues Konfliktpotenzial

Eine dauerhafte Nachweispflicht würde die schwächste Seite im System spürbar belasten. Wer in Armut lebt, hätte neben der täglichen Bewältigung von Erwerbssuche, Betreuung und oft prekären Wohn- oder Gesundheitssituationen ein kleinteiliges Beleg-Management zu führen – von Bewerbungstagebüchern über Screenshots und Absagen bis hin zu Gesprächsnotizen und Kursbescheinigungen.

In den Jobcentern würde die Flut an einzureichenden Unterlagen die Prüf- und Dokumentationslast stark erhöhen. Schon heute berichten Berliner Jobcenter je nach Standort von erheblichen Ausfallquoten bei Terminen; teils werden 30 Prozent, teils deutlich darüber liegende Werte genannt.

Ein System, das jeden einzelnen Schritt streng dokumentationspflichtig macht, dürfte zu mehr Streitfällen, Widersprüchen und Klagen führen – auch, weil es ohne eindeutig definierte, bundeseinheitliche Qualitätskriterien unweigerlich größere Ermessensspielräume bei der Bewertung „ernsthafter Bemühungen“ gäbe.

Rechtschreibfehler oder ein brüchiger Lebenslauf könnten rasch als „mangelnder Wille“ interpretiert werden, obwohl sie häufig Ausdruck von Bildungsbiografien, psychischer Belastung oder Sprachhürden sind.

Rechtliche und verfassungsrechtliche Fragezeichen

Die Verlagerung der Beweislast berührt Grundsätze des Sozialverwaltungsrechts. Der Untersuchungsgrundsatz verpflichtet die Behörde, von Amts wegen zu ermitteln, während Mitwirkungspflichten der Bürgerinnen und Bürger punktuell und verhältnismäßig auszugestalten sind. Eine generalisierte Dauer-Beweispflicht würde diese Systematik umkehren.

Hinzu kommt die Leitplanke des Bundesverfassungsgerichts, das 2019 die Sanktionspraxis nur innerhalb enger Grenzen bestätigte und das physische und soziokulturelle Existenzminimum als unantastbar betonte. Je rigider die Dokumentations- und Sanktionslogik, desto höher die Anforderungen an Verhältnismäßigkeit, Transparenz und Härtefall-Regelungen. Arbeitsmarktforscher bewerten eine echte Beweislastumkehr daher als rechtlich „kaum umsetzbar“.

Von „Bürgergeld“ zur „Neuen Grundsicherung“

Die Umbenennung des Bürgergelds in eine „Neue Grundsicherung“ ist politisch beschlossen und soll 2026 wirksam werden. Die Bundesregierung hat nach einem Koalitionsausschuss entsprechende Eckpunkte kommuniziert; Details – darunter mögliche neue Mitwirkungspflichten, strengere Sanktionen und die exakte Terminierung – werden im Gesetzgebungsverfahren konkretisiert.

In Entwürfen und Begleitpapieren ist teils vom künftig ausgezahlten „Grundsicherungsgeld“ die Rede. Unabhängig von der nomenklatorischen Neuausrichtung bleibt entscheidend, ob die Reform stärker auf Vermittlung, Qualifizierung und die Beseitigung struktureller Arbeitshemmnisse setzt – oder ob sie primär mit Kontrolle und Abschreckung arbeitet.

Bewertung: Steuerungslogik mit Nebenwirkungen

Die Idee der Beweislastumkehr verspricht auf den ersten Blick Klarheit: Wer ernsthaft Arbeit sucht, liefert Belege; wer dies verweigert, spürt unmittelbare Konsequenzen. Doch die Praxis birgt erhebliche Risiken und Nachteile für Bürgergeld-Bezieher.

Ein System, das Nachweise über die tatsächliche Integration in Arbeit stellt, kann Motivation stärken, sofern die Nachweiskriterien praxistauglich, digital handhabbar, transparent und sozial ausgewogen sind. Ein System, das vor allem Zettelwirtschaft erzeugt, verfehlt sein Ziel.

Gerade dort, wo psychosoziale Problemlagen, geringe Literalität, Sprachbarrieren oder instabile Erwerbsbiografien vorliegen, drohen Fehlentscheidungen und Abbrüche – mit Folgekosten für Verwaltung, Gerichte und Kommunen.

Fazit

Die Umkehr der Beweislast wäre keine bloße Verschärfung einzelner Paragrafen, sondern ein tiefer Eingriff in die Grundrechte des Sozialrechts. Sie erhöhte den Druck auf Betroffene massiv, ohne die strukturellen Ursachen von Langzeitarbeitslosigkeit zu beseitigen. Nachweise verbessern Statistiken, aber sie schaffen keine Stellen, qualifizieren nicht und ersetzen keine passgenaue Vermittlung.