Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Wรผrttemberg hat entschieden: Selbst wer tรคglich Insulin spritzt, kann nicht ohne weiteres mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 rechnen.
Entscheidend sind nach dem aktuellen Urteil (Az. L 3 SB 382/24) nicht nur die Anzahl der Insulininjektionen, sondern auch schwerwiegende, belegbare Einschrรคnkungen im Alltag. Das betrifft viele chronisch kranke Bรผrgergeld-Bezieher, bei denen die GdB-Bewertung Auswirkungen auf Kรผndigungsschutz, Zusatzurlaub und Mehrbedarfe hat.
Inhaltsverzeichnis
Keine Schwerbehinderung trotz intensiver Insulintherapie
Im konkreten Fall hatte ein Typ2-Diabetiker auf die Anerkennung eines GdB von 50 geklagt. Er argumentierte, dass er tรคglich mehrfach Insulin spritze und dadurch stark im Alltag eingeschrรคnkt sei. Das LSG wies die Klage jedoch ab.
Zwar sei der Therapieaufwand nicht unerheblich, doch dieser allein reiche nicht aus, um eine gravierende Teilhabebeeintrรคchtigung im Sinne der Versorgungsmedizinischen Grundsรคtze (VG) zu belegen. Auch zusรคtzliche Leiden wie Schulterprobleme, Wirbelsรคulenbeschwerden und eine Depression fรผhrten nur zu einem Gesamt GdB von 40 โ und damit unterhalb der Schwelle zur Schwerbehinderung.
Wann wird bei Diabetes ein GdB von 50 anerkannt?
Nach VG Teil B Nr. 15.1 Abs. 4 setzt ein GdB von 50 bei Diabetes voraus:
- Tรคglich mindestens vier dokumentierte Insulininjektionen
- Selbststรคndige Anpassung der Dosis an Blutzucker, Bewegung und Mahlzeiten
- Gravierende Einschrรคnkungen in der Lebensfรผhrung
- Nachweis durch ein detailliertes Therapietagebuch oder andere objektive Unterlagen
Im vorliegenden Fall fehlten diese Belege. Der Klรคger nutzte ein kontinuierliches Glukosemesssystem, fรผhrte aber kein klassisches Diabetes-Tagebuch. Zudem lagen keine dokumentierten Hypoglykรคmien oder Notfalleinsรคtze vor.
Was zรคhlt als gravierende Einschrรคnkung?
Gerichte erkennen eine โausgeprรคgte Teilhabebeeintrรคchtigungโ nur dann an, wenn alltรคgliche Lebensbereiche nachweislich massiv beeintrรคchtigt sind โ etwa durch:
- hรคufige Krankenhausaufenthalte
- regelmรครige Notfalleinsรคtze wegen Unterzuckerung
- dokumentierte Ausfรคlle im Berufsleben
- erhebliche psychische Belastungen mit Therapiebedarf
Im Urteil wurde klargestellt: Die normale Selbstbehandlung eines Diabetes โ inklusive Blutzuckermessung, Spritzen und Ernรคhrungsanpassung โ stellt fรผr sich genommen noch keine gravierende Beeintrรคchtigung dar. Wer etwa auf geselliges Essen verzichtet oder Reisen besser planen muss, bewegt sich im Bereich alltรคglicher Krankheitsbewรคltigung โ nicht aber einer Schwerbehinderung im Sinne des Gesetzes.
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Widerspruch bei GdB-Ablehnung: Wann lohnt sich der Aufwand?
Ein Widerspruch gegen die GdB-Feststellung ist grundsรคtzlich mรถglich. Allerdings zeigt der Fall, wie hoch die Hรผrden sind. Ohne aussagekrรคftige Dokumentation โ etwa รผber Notfรคlle, Therapieabbrรผche oder massive Alltagsprobleme โ sind die Chancen gering. Auch zusรคtzliche Erkrankungen wie leichte Depressionen oder Wirbelsรคulenprobleme fรผhren nur dann zu einem hรถheren Gesamt GdB, wenn sie deutlich ausgeprรคgt und gutachterlich bestรคtigt sind.
Lesertipp: Wenn Ihr Antrag abgelehnt wurde, holen Sie rechtzeitig ein unabhรคngiges sozialmedizinisches Gutachten ein und prรผfen Sie, ob eine Reha oder ein Teilhabeplan als alternatives Instrument infrage kommt.
Bedeutung fรผr Bรผrgergeld Beziehende
Besonders fรผr Menschen im SGB-II-Bezug kann der GdB eine wichtige Rolle spielen. Wer als schwerbehindert gilt (ab GdB 50), profitiert u. a. von:
- besonderem Kรผndigungsschutz
- zusรคtzlichem Urlaub
- Nachteilsausgleichen (z.โฏB. Steuerfreibetrรคge)
- Erleichterungen bei der Zumutbarkeitsprรผfung durch das Jobcenter
Ein GdB von 40 genรผgt hierfรผr nicht โ es sei denn, รผber einen Gleichstellungsantrag bei der Agentur fรผr Arbeit wird eine Gleichstellung mit Schwerbehinderten erreicht.
Rechtslage und aktuelle Tendenzen
Das LSG-Urteil reiht sich in eine Serie รคhnlich gelagerter Entscheidungen ein. Bereits 2014 hatte das Bundessozialgericht (BSG) entschieden, dass eine intensive Insulintherapie alleine nicht ausreicht, um den GdB 50 zu rechtfertigen. Die aktuelle Entscheidung bestรคtigt diesen Kurs. Auch das LSG Nordrhein-Westfalen (Az. L 13 SB 57/22) schloss sich jรผngst dieser restriktiven Linie an.
Dokumentieren lohnt sich โ aber nicht alles reicht
Diabetiker, die eine Schwerbehinderung anstreben, mรผssen belegen, dass sie รผber das รผbliche Maร hinaus eingeschrรคnkt sind. Allein vier Spritzen tรคglich oder eine kontinuierliche Glukosemessung reichen nicht. Ausschlaggebend ist der konkrete Einfluss auf die Lebensfรผhrung โ und dieser muss lรผckenlos nachgewiesen werden.
Praxistipp: So bereiten Sie Ihren GdB-Antrag richtig vor
Um Ihre Chancen auf eine hรถhere GdB-Einstufung zu verbessern, sollten Sie ein ausfรผhrliches Therapietagebuch fรผhren โ und zwar nicht nur mit Angaben zu Uhrzeiten und Insulindosen, sondern auch zu den konkreten Auswirkungen im Alltag.
Darรผber hinaus ist es hilfreich, dokumentierte Hypoglykรคmien sowie Situationen, in denen Sie auf Fremdhilfe angewiesen waren, systematisch zu erfassen. Ergรคnzend sollten Sie Nachweise beilegen, etwa Arbeitgeberbescheinigungen oder รคrztliche Atteste, die belegen, inwiefern Ihre Erkrankung Ihre berufliche Leistungsfรคhigkeit einschrรคnkt.
Falls ein GdB von 50 nicht anerkannt wird, empfiehlt es sich zudem, alternative Wege zu prรผfen โ beispielsweise einen Gleichstellungsantrag bei der Agentur fรผr Arbeit oder die Inanspruchnahme des Steuerfreibetrags, der bereits ab einem GdB von 40 gewรคhrt werden kann.