Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (Az. L 6 SB 125/20) hat bestรคtigt, dass ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 fรผr einen insulinpflichtigen Diabetes nicht automatisch bestehen bleibt. Wer die geforderten Nachweise fรผr โgravierende Einschnitteโ im Alltag nicht lรผckenlos belegt, kann auf 40 Punkte und damit unter die Schwelle zur Schwerbehinderung fallen. Fรผr chronisch Erkrankte bedeutet das Urteil: Dokumentation entscheidet.
Inhaltsverzeichnis
Warum das Urteil Maรstรคbe setzt
Die Richterinnen und Richter prรผften drei Kriterien der Versorgungsmedizin-Verordnung (VMG). Erstens: tรคglich mindestens vier Insulininjektionen. Zweitens: flexible Dosisanpassung je nach Blutzucker, Mahlzeit und Bewegung. Drittens โ das war ausschlaggebend โ messbare Einschrรคnkungen im Lebensalltag.
Weil die Klรคgerin trotz Krankheit Vollzeit arbeitete, Sport trieb und Urlaubsreisen unternahm, verneinte das Gericht โgravierende Einschnitteโ. Fazit: Ohne nachweisbare Teilhabebeeintrรคchtigung reicht die Spritzenzahl allein nicht.
Psychische Begleiterkrankungen erhรถhen den GdB nur mit aktuellen Belegen
Die Klรคgerin litt zusรคtzlich an Angst- und Depressionssymptomen. Ein Gutachter veranschlagte dafรผr 20 Punkte. Das Gericht blieb dabei, hob den Gesamt-GdB aber nicht an. Begrรผndung: Die โHypoglykรคmie-Angstโ ist bereits in den Diabetes-Tabellenwerten eingepreist. Auรerdem lagen zwischen 2015 und 2018 keine laufenden Therapien oder Krankschreibungen vor.
Entscheidend sei, so das Gericht, ob Fachbehandlungen aktuell stattfinden oder dringend nรถtig sind.
ยง 48 SGB X: Wann Behรถrden den GdB nachtrรคglich รคndern dรผrfen
Die Herabstufung erfolgte zwei Jahre nach einem sogenannten รberprรผfungsverfahren. ยง 48 SGB X erlaubt eine rรผckwirkungsfreie Anpassung, sobald sich die tatsรคchlichen Verhรคltnisse โwesentlich geรคndertโ haben. Fรผr Schwerbehinderte heiรt das: Jedes Gutachten bleibt nur so lange unangreifbar, wie die darin beschriebenen Einschrรคnkungen fortbestehen und belegbar sind.
Was Diabetes-Patientinnen und -Patienten aus dem Urteil lernen
- Lรผckenlose Therapie- und Blutzuckerdokumentation: Tagesprofile, HbA1c-Verlรคufe, รคrztliche Berichte โ fehlt nur ein Glied, droht Zweifel an der Stoffwechsellage.
- Alltagseinschrรคnkungen konkret festhalten: Dienstunfรคhigkeiten, Fremdhilfe bei Unterzuckerungen, Fahrtauglichkeits-Probleme. Je ausfรผhrlicher, desto glaubwรผrdiger.
- Psychische Belastung belegen: Laufende Psychotherapie, Medikamente, stationรคre Krisenintervention steigern die Chance, dass Angst- oder Depressionsepisoden den Gesamt-GdB beeinflussen.
Tipps fรผrs Widerspruchsverfahren
Wer einen Bescheid zur GdB-Minderung erhรคlt, hat in NRW einen Monat Zeit, Widerspruch einzulegen. Gut ist es, sofort aktuelle Befundberichte nachzureichen. รrztinnen und รrzte sollten klar darlegen, welche Teilhabebeschrรคnkungen bestehen โ etwa nรคchtliche Alarmierungen wegen Unterzuckerung oder massive Erschรถpfung nach Hypoglykรคmien.
Fehlen solche Angaben, stรผtzt sich das Gericht auf die Verwaltungsakte โ und die spricht selten zugunsten der Betroffenen.
Konsequenzen fรผr Erwerbstรคtige
Fรคllt der GdB unter 50, gehen Zusatzurlaub, verbesserter Kรผndigungsschutz und steuerliche Nachteilsausgleiche verloren. Beschรคftigte mit hohem Insulinaufwand sollten deshalb frรผh prรผfen, ob sie durch Therapieanpassungen oder Folgeerkrankungen erneut Anspruch auf 50 Punkte haben. Ein neuer Antrag ist jederzeit mรถglich, wenn sich der Gesundheitszustand verschlechtert.
Ausblick
Das Urteil schiebt automatischen Einstufungen einen Riegel vor. Schwerbehindertenrechte bleiben erreichbar โ aber nur mit aktuellen, konkreten Nachweisen.
Praxisbeispiel: Wer hรคufige Hypoglykรคmien verzeichnet, sollte dokumentieren, dass Kolleginnen einspringen mรผssen oder das Autofahren riskant wird. Erst solche Belege zeigen den โgravierenden Einschnittโ, den die VMG fordert.