Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) hat am 11. Dezember 2025 entschieden, dass bestimmte EU-Staatsangehörige einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II haben, obwohl Jobcenter sie bislang häufig wegen des ausländerrechtlichen Status abgewiesen haben.
Es geht um EU-Elternteile, die tatsächlich die elterliche Sorge für ein minderjähriges EU-Kind ausüben, das seinerseits ein Aufenthaltsrecht nach dem Freizügigkeitsrecht besitzt.
Das Gericht leitet für diese Konstellation einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Aufenthaltsgesetz her – so, als ginge es um die bekannte Fallgruppe „Elternteil eines deutschen Kindes“.
Mit dieser Brücke wird der Leistungsausschluss im SGB II, der an ein Aufenthaltsrecht „allein zur Arbeitsuche“ anknüpft, im konkreten Fall durchbrochen.
Besonders bemerkenswert ist dabei nicht nur die materiell-rechtliche Linie, sondern auch der Ton gegenüber der Verwaltung: Das LSG rügt das prozessuale Verhalten des Jobcenters ungewöhnlich scharf und verhängt Verschuldenskosten. Das ist in der sozialgerichtlichen Praxis selten und zeigt, wie deutlich das Gericht die Rechtslage nach der europäischen Vorentscheidung bewertet.
Der Fall aus Duisburg: Streit um Leistungen für das Jahr 2020
Ausgangspunkt war ein Streit über Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II für Zeiträume im Jahr 2020. Die Klägerin ist bulgarische Staatsangehörige und lebte in Duisburg mit ihrem Lebensgefährten und dem gemeinsamen Sohn.
Der Sohn wurde in Deutschland geboren und ist Unionsbürger. Der Lebensgefährte war in den maßgeblichen Zeiträumen sozialversicherungspflichtig beschäftigt; die Klägerin selbst hatte nur kurzzeitig eine Beschäftigung und befand sich später ohne gesichertes eigenes Erwerbseinkommen im Leistungsbezugskonflikt.
Das Jobcenter erkannte Leistungen für den Sohn und zeitweise für den Lebensgefährten an, stellte sich jedoch auf den Standpunkt, die Klägerin selbst habe in den streitigen Zeiträumen kein Aufenthaltsrecht, das einen Anspruch nach dem SGB II auslöse. Nach Auffassung der Behörde greife der Leistungsausschluss für Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich – vereinfacht gesprochen – nicht aus Arbeit, Familienstatus oder einem anderen „tragfähigen“ Aufenthaltsgrund ergebe.
Das Sozialgericht Duisburg wies die Klage zunächst ab. In der Berufung änderte das LSG NRW diese Entscheidung und verurteilte das Jobcenter zur Leistungsgewährung für wesentliche Zeiträume; zudem blieb die Revision unzugelassen.
Warum Jobcenter bei EU-Staatsangehörigen häufig den Rotstift ansetzen
Der Streit berührt einen seit Jahren konfliktträchtigen Bereich: die Schnittstelle zwischen Freizügigkeitsrecht, nationalem Aufenthaltsrecht und existenzsichernden Leistungen.
Das SGB II sieht Leistungsausschlüsse für bestimmte Gruppen von Ausländerinnen und Ausländern vor. Maßgeblich sind dabei Konstellationen, in denen kein Aufenthaltsrecht besteht oder ein Aufenthaltsrecht nur zur Arbeitsuche angenommen wird.
In der Praxis führt das zu schwierigen Abgrenzungen: Wer als EU-Bürgerin oder EU-Bürger nicht als Arbeitnehmerin, Arbeitnehmer oder Selbständige(r) gilt, keine ausreichenden Existenzmittel nachweisen kann und auch nicht über ein anderes Aufenthaltsrecht verfügt, wird von Jobcentern häufig auf die Ausschlusstatbestände verwiesen.
In Familienkonstellationen kommt eine weitere Ebene hinzu. Ein Kind kann ein Aufenthaltsrecht aus dem Freizügigkeitsrecht ableiten, etwa weil ein Elternteil als Arbeitnehmer freizügigkeitsberechtigt ist.
Für den betreuenden Elternteil ist das jedoch nicht automatisch eine Eintrittskarte in das Leistungsrecht. Besonders problematisch wird es, wenn die Eltern nicht verheiratet sind und die betreuende Person deshalb nicht als „Familienangehörige“ im Sinne des Freizügigkeitsrechts behandelt wird. Genau an dieser Stelle setzt die Entscheidung des LSG NRW an.
Die „Günstigkeitsregel“ im Freizügigkeitsrecht als Türöffner
Das LSG NRW arbeitet mit einer Vorschrift, die außerhalb der Fachöffentlichkeit wenig bekannt ist, aber im Streitfall enorme Wirkung entfaltet: § 11 FreizügG/EU regelt, in welchen Fällen Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes bei Personen zur Anwendung kommen können, deren Aufenthalt eigentlich dem Freizügigkeitsrecht unterfällt. Der Gedanke dahinter ist: Wenn das nationale Aufenthaltsrecht im Einzelfall eine günstigere Rechtsstellung vermittelt als das Freizügigkeitsrecht, soll diese günstigere Position nicht versperrt sein.
Aus dieser „Günstigkeitsregel“ folgt nach der Logik des LSG, dass eine EU-Staatsangehörige, die nicht über die klassischen Freizügigkeitsgründe abgesichert ist, sich gleichwohl auf einen Anspruch aus dem Aufenthaltsgesetz berufen kann, wenn die Voraussetzungen dafür vorliegen und die unionsrechtlichen Gleichbehandlungsanforderungen dies gebieten.
§ 28 AufenthG: Was Eltern deutscher Kinder längst kennen
§ 28 AufenthG enthält eine besonders bedeutsame familienbezogene Regelung. Sie eröffnet einem ausländischen Elternteil eines minderjährigen, ledigen deutschen Kindes zur Ausübung der Personensorge einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis.
Das ist bewusst als starkes Schutzinstrument ausgestaltet, weil es das familiäre Zusammenleben und die tatsächliche Sorgebeziehung absichern soll. In dieser Fallgruppe treten Anforderungen, die sonst häufig eine Rolle spielen – etwa die Sicherung des Lebensunterhalts – deutlich zurück.
Genau dies war in der Vergangenheit jedoch auf deutsche Kinder zugeschnitten. Wenn das Kind „nur“ Unionsbürger ist, aber nicht deutsch, haben Behörden die Anwendung häufig verweigert oder zumindest als nicht einschlägig behandelt. Der europarechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz stellt diese Unterscheidung nun in Frage.
EuGH vom 1. August 2025: Diskriminierung über die Staatsangehörigkeit des Kindes ist unzulässig
Den entscheidenden Rückenwind erhielt die Linie durch das EuGH-Urteil vom 1. August 2025 (C-397/23). Der Gerichtshof befasste sich mit einer deutschen Regelung, die eine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der elterlichen Sorge nach nationalem Recht davon abhängig machte, dass das betreute Kind die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.
Der EuGH sah darin einen Verstoß gegen den unionsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz aus Art. 24 der Unionsbürgerrichtlinie 2004/38/EG, soweit das Kind ein Aufenthaltsrecht nach dieser Richtlinie hat.
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Bescheid prüfenWenn ein minderjähriges Unionsbürgerkind in Deutschland freizügigkeitsrechtlich aufenthaltsberechtigt ist, darf die aus dem nationalen Recht bekannte Absicherung des betreuenden Elternteils nicht allein wegen der fehlenden deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes versagt werden.
Art. 24 der Richtlinie sieht zwar Ausnahmen bei Sozialhilfe in den ersten drei Monaten oder bei einem Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche vor. Diese Ausnahme greift nach der EuGH-Linie aber nicht automatisch in Konstellationen, in denen das Kind sein Aufenthaltsrecht aus einem anderen Grund als den dort genannten kurzen oder arbeitsuchbezogenen Aufenthalten hat. Damit wird der Spielraum nationaler Stellen enger, die Gleichbehandlung über pauschale Verweise auf „Sozialhilfe-Ausnahmen“ zurückzudrängen.
LSG NRW: Der Anspruch auf die Aufenthaltserlaubnis reicht für das SGB II
Das LSG NRW greift die EuGH-Vorgaben auf und überträgt sie auf den Leistungsstreit. Es stellt fest, dass die Klägerin im streitigen Zeitraum zwar nicht als Arbeitnehmerin, Selbständige oder anderweitig freizügigkeitsberechtigt eingestuft werden konnte.
Genau deshalb war der Fall für die Ausschlusslogik des Jobcenters anfällig. Das Gericht erkennt jedoch ein anderes Aufenthaltsrecht an, das nicht auf Arbeitsuche reduziert werden kann: ein Aufenthaltsrecht über die Günstigkeitsregel des FreizügG/EU in Verbindung mit dem Anspruch aus § 28 AufenthG, ausgelöst durch die tatsächliche Sorge für den minderjährigen Unionsbürger-Sohn.
Dabei betont der Senat, dass der Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II nicht daran scheitert, dass eine Aufenthaltserlaubnis im Verwaltungsverfahren noch nicht erteilt wurde. Für die sozialrechtliche Bewertung ist nicht die Papierlage entscheidend, sondern ob ein Anspruch auf Erteilung besteht.
Diese Sicht fügt sich in die Linie der höchstrichterlichen sozialgerichtlichen Rechtsprechung ein, die bei Aufenthaltsrechten in vergleichbaren Konstellationen nicht selten auf die materielle Rechtsposition und nicht auf das formale Dokument abstellt.
Im Ergebnis bedeutet das: Sobald die Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 AufenthG – übertragen auf das EU-Kind über die europarechtliche Gleichbehandlung – erfüllt sind, liegt ein Aufenthaltsrecht vor, das den SGB-II-Ausschluss wegen bloßer Arbeitsuche verdrängt.
Das öffnet den Zugang zu Regelbedarf, Unterkunftskosten und den weiteren Leistungsbestandteilen nach dem SGB II, sofern die allgemeinen Voraussetzungen wie Hilfebedürftigkeit und Erwerbsfähigkeit erfüllt sind.
„Fiktiver Anspruch“ in der Praxis
Die Tragweite dieses Punktes kann kaum überschätzt werden. In vielen Verfahren verweisen Jobcenter auf die Ausländerbehörde und verlangen faktisch, dass Betroffene erst einen Aufenthaltstitel vorlegen, bevor überhaupt Leistungen geprüft werden.
Das LSG NRW stellt sich dem entgegen und argumentiert mit der rechtlichen Struktur des Aufenthalts- und Freizügigkeitsrechts: Wenn das Recht besteht, muss es im Sozialrecht berücksichtigt werden. Damit wird das Verfahren entkoppelt von Verzögerungen in der ausländerrechtlichen Verwaltungspraxis.
Für Betroffene ist das mehr als eine prozessuale Feinheit.
Wer existenzsichernde Leistungen benötigt, kann die Monate eines ausländerbehördlichen Titelerteilungsverfahrens oft nicht überbrücken. Das Urteil macht deutlich, dass eine solche Warteposition nicht der Maßstab sein darf, wenn der Gesetzes- und Richtlinienrahmen einen Anspruch vorgibt.
Schärfer als üblich: Verschuldenskosten wegen missbräuchlicher Prozessführung
Ein zweiter Teil des Urteils setzt ein deutliches Zeichen in Richtung Verwaltungskultur. Das LSG NRW legt dem Jobcenter Verschuldenskosten in Höhe von 1.500 Euro auf. Grundlage ist § 192 SGG, der es Gerichten erlaubt, Kosten aufzuerlegen, wenn ein Beteiligter einen Rechtsstreit fortführt, obwohl die Aussichtslosigkeit oder Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung beziehungsweise -verteidigung aufgezeigt wurde und gleichwohl weiter prozessiert wird.
Der Senat begründet die Sanktion damit, dass die Rechtslage nach der EuGH-Entscheidung geklärt sei und nationale Gerichte an die Auslegung des Unionsrechts gebunden sind.
Umso weniger sei nachvollziehbar, dass das Jobcenter weiter an internen Weisungen festgehalten habe, obwohl gerichtliche Hinweise auf die überholte Position vorlagen.
Die Kostenentscheidung ist damit nicht nur eine finanzielle Nebenfolge, sondern ein gerichtlicher Kommentar zur Pflicht der Verwaltung, die europarechtlich geklärte Rechtslage in der täglichen Entscheidungspraxis zeitnah umzusetzen.
Was das Urteil für EU-Familien bedeutet
Für EU-Familien, die in Deutschland leben, kann die Entscheidung die Lage spürbar stabilisieren. Relevant sind vor allem Konstellationen, in denen ein minderjähriges EU-Kind freizügigkeitsrechtlich aufenthaltsberechtigt ist und ein Elternteil tatsächlich die Sorge ausübt, ohne selbst über einen belastbaren Freizügigkeitstatbestand zu verfügen.
Gerade bei unverheirateten Eltern, bei Trennungen oder bei Konstellationen, in denen der betreuende Elternteil nicht als „Familienangehöriger“ im freizügigkeitsrechtlichen Sinne erfasst wird, kann § 28 AufenthG über die europarechtliche Gleichbehandlung zur entscheidenden Rechtsgrundlage werden.
Zugleich ist das Urteil ein Hinweis darauf, dass Leistungsansprüche nicht nur für die Zukunft, sondern auch rückwirkend in den Blick geraten können, wenn Bescheide noch überprüfbar sind. Das betrifft insbesondere Fälle, in denen Jobcenter Leistungszeiträume mit dem Argument „kein Aufenthaltsrecht“ abgelehnt haben, obwohl die Voraussetzungen einer elterlichen Sorgekonstellation vorlagen und das Kind ein Aufenthaltsrecht nach dem Freizügigkeitsrecht hatte.
Grenzen und offene Folgefragen
Das Urteil ist kein Freifahrtschein für jede EU-Staatsangehörige und jeden EU-Staatsangehörigen im Bürgergeldbezug. Maßgeblich ist, dass das Kind ein Aufenthaltsrecht nach dem Freizügigkeitsrecht hat, das nicht auf die kurzen Anfangsmonate oder auf ein reines Arbeitsuche-Aufenthaltsrecht reduziert ist. Außerdem muss die Person, die Leistungen beansprucht, tatsächlich die elterliche Sorge ausüben. Das kann in Konfliktfällen, etwa bei wechselnder Betreuung oder unklaren Sorgeverhältnissen, beweisrechtlich anspruchsvoll werden.
Offen bleibt in der Breite, wie Jobcenter künftig mit Mischlagen umgehen, in denen mehrere Aufenthaltsgründe nebeneinander behauptet werden, oder in denen Behörden ein Aufenthaltsrecht zwar materiell für möglich halten, aber formale Nachweise verlangen. Das Urteil setzt hier klare Leitplanken, wird aber nicht alle Reibungsflächen der Verwaltungspraxis sofort auflösen.
Quellen
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 11.12.2025 – L 19 AS 1079/23, Europäischer Gerichtshof, Urteil vom 01.08.2025 – C-397/23 (Auslegung von Art. 24 RL 2004/38/EG zur Gleichbehandlung bei nationaler Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung elterlicher Sorge).




