Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) hat das Jobcenter Oberhausen dazu verpflichtet, einem 63-jährigen Antragsteller rückwirkend den Regelbedarf nach dem Bürgergeld auszuzahlen – obwohl derselbe Leistungsträger den Antrag im Januar 2024 wegen vermeintlich fehlender Unterlagen abgelehnt hatte.
Nach Ansicht der Richter durfte die Behörde die Zahlungen nicht mit der Begründung versagen, es fehlten Dokumente seiner geschiedenen Ehefrau, denn diese seien für die Feststellung seines eigenen Anspruchs „in keiner Weise erheblich“.
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Die Ausgangslage des Klägers
Der Kläger, dem wegen mehrfacher chronischer Erkrankungen ein Grad der Behinderung von 80 (Merkzeichen G und B) zuerkannt ist, zog Ende 2023 von Wuppertal nach Oberhausen.
Bis dahin hatte er Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) erhalten. Nach dem Umzug riet ihm die Kommune zur Beantragung von Bürgergeld nach dem Zweiten Buch (SGB II). Er stellte den Antrag am 30. November 2023 und
Was das Jobcenter verlangte – und warum
Schon wenige Tage später forderte die Behörde in zwei Schreiben Unterlagen, die weit über die persönlichen Verhältnisse des Antragstellers hinausgingen. Gefordert wurden unter anderem der Personalausweis, sämtliche Kontoauszüge, die Sozialversicherungsnummer, die Krankenkassenkarte und ein Nachweis eines Wohngeldantrags seiner geschiedenen Ehefrau, mit der er in einer Bedarfsgemeinschaft lebt.
Die Frau, selbst schwerbehindert (GdB 100, Merkzeichen RF), bezieht eine bescheidene Erwerbsminderungsrente und steht ebenfalls unter rechtlicher Betreuung. Weil nicht alle geforderten Belege zur Partnerin verfügbar waren, lehnte das Jobcenter die Leistung vollständig ab – gestützt auf § 66 SGB I, der bei fehlender Mitwirkung eine Versagung erlaubt.
Erste Niederlage vor dem Sozialgericht Gelsenkirchen
Der Kläger erhob Widerspruch und beantragte Eilrechtsschutz. Das Sozialgericht wies den Antrag jedoch zurück.
Es teilte die Auffassung des Jobcenters, dass ohne die Unterlagen der Ehefrau eine Klärung der Hilfebedürftigkeit nicht möglich sei. Die existenzsichernden Leistungen blieben damit vorerst versagt.
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Wendepunkt in der zweiten Instanz
In der Beschwerdeinstanz kassierte der 21. Senat des LSG die Entscheidung. Nach ausführlicher Prüfung kam er zu dem Schluss, dass der Kläger seine Mitwirkungspflicht erfüllt habe: Kontoauszüge belegten sein Kindergeld, ein Krankenkassenbescheid bestätigte die Versicherung, und die Rente der Partnerin war bekannt.
Weitere Dokumente der Frau seien rechtlich entbehrlich, weil sie selbst keine Leistungen nach dem SGB II beantrage. Fehle dem Jobcenter dennoch eine Information, müsse es sich direkt an die betroffene Person wenden (§ 60 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB II) – eine Obliegenheit, die es hier schlicht ignoriert habe.
Juristische Einordnung
Mit § 66 SGB I wollte der Gesetzgeber Leistungsträger in die Lage versetzen, fehlende Mitwirkung zu sanktionieren, nicht aber, den Nachweis unmöglicher Tatsachen zu verlangen.
Schon 2009 hatte das Bundessozialgericht entschieden, dass ein Antragsteller nicht dafür haftet, wenn er Unterlagen Dritter nicht beibringen kann (B 4 AS 78/08 R). Dieser Grundsatz gilt seit Einführung des Bürgergeldes fort, wie das aktuelle LSG-Urteil unterstreicht.
Folgen für die Verwaltungspraxis
Der Beschluss ist ein deutlicher Hinweis an Jobcenter, ihre Prüfungsbefugnisse nicht mit pauschalen Sammelanforderungen zu überziehen.
Wo Unterlagen eines nicht antragstellenden Mitglieds der Bedarfsgemeinschaft fehlen, muss die Behörde zunächst den eigenen Auskunftsanspruch nutzen, statt die Betroffenen in existenzielle Not zu bringen.
Damit stärkt das LSG den Schutz schwerbehinderter Menschen, die auf Bürgergeld angewiesen sind, und setzt Maßstäbe für ein rechtskonformes Mitwirkungsverfahren.
Bedeutung für Betroffene und Beratungsstellen
Für Leistungsberechtigte bietet das Urteil eine klare Botschaft: Die Pflicht zur Vorlage von Dokumenten endet dort, wo man selbst keine rechtliche Verfügungsbefugnis besitzt.
Wer sich in einer ähnlichen Lage befindet, sollte unzumutbare Anforderungen schriftlich zurückweisen, auf das Urteil verweisen und gegebenenfalls Eilrechtsschutz beim Sozialgericht beantragen.
Beratungsstellen sehen darin einen wichtigen Präzedenzfall, weil er das Machtgefälle zwischen Jobcentern und hilfesuchenden Menschen zumindest teilweise korrigiert.
Ein Schritt zu mehr Rechtssicherheit
Die Entscheidung des LSG Nordrhein-Westfalen ist kein Freifahrtschein, Unterlagen generell zu verweigern. Sie zwingt aber die Verwaltung, ihre Ermittlungen zielgerichtet und verhältnismäßig zu gestalten.
Für den Kläger bedeutet das Urteil nicht nur die längst überfällige Auszahlung des Regelbedarfs, sondern auch die Gewissheit, dass seine Rechte im Sozialstaat gelten – selbst gegenüber einer Behörde, die es sich mit der Versagung allzu einfach gemacht hatte.