“Bin ich ein Betrüger, wenn ich das höhere Krankengeld behalte?” Die Frage klingt plakativ, berührt aber ein reales Dilemma vieler Versicherter: Bis zu 78 Wochen lang kann ein Arbeitnehmer in Deutschland Krankengeld beziehen – oft deutlich mehr als eine vorgezogene Altersrente für schwerbehinderte Menschen einbringen würde.
Wer sich deshalb entscheidet, die Rente zunächst nicht zu beantragen, handelt weder rechtlich verboten noch moralisch verwerflich.
Entscheidend ist, dass der Anspruch auf Krankengeld per Bescheid bewilligt wurde und weiterhin besteht. Solange dieser Bescheid nicht aufgehoben wird und die gesetzliche Höchstdauer noch nicht erreicht ist, dürfen Versicherte die Leistung ausschöpfen.
Welche Regeln bestimmen die Dauer des Krankengeldes?
§ 48 SGB V legt fest, dass Krankengeld „wegen derselben Krankheit“ höchstens achtundsiebzig Wochen innerhalb eines Drei-Jahres-Zeitraums gewährt wird. In dieser Frist sind die sechs Wochen Lohnfortzahlung durch den Arbeitgeber bereits enthalten.
Erst wenn diese Blockfrist erschöpft ist, endet der Leistungsanspruch, es sei denn, eine neue Blockfrist beginnt oder die Arbeitsunfähigkeit geht auf eine andere Ursache zurück. Die Leistungshöchstdauer ist damit eindeutig gesetzlich begrenzt, aber bis zu diesem Limit uneingeschränkt zulässig.
Kann die Krankenkasse mich zur vorgezogenen Altersrente zwingen?
Nein. Die sogenannte Aufforderungsbefugnis der Kassen nach § 51 SGB V erlaubt nur, zu einem Antrag auf medizinische Rehabilitation oder – in Ausnahmefällen – zu einem Antrag auf Erwerbsminderungsrente zu drängen.
Ein Zwang zur vorgezogenen Altersrente besteht nicht. Erst wenn Versicherte die Regelaltersgrenze erreichen, darf die Krankenkasse fordern, den Rentenantrag zu stellen; ab diesem Zeitpunkt ruht das Krankengeld. Für alle früheren Altersrenten, auch die abschlagsfreie Rente für schwerbehinderte Menschen, bleibt die Entscheidung allein dem Versicherten überlassen.
Warum ist das Fortführen des Krankengeldes oft finanziell sinnvoll?
Ein praktisches Beispiel: Hans Müller bezieht das Krankengeld. Zwischen 2 600 Euro Krankengeld und etwa 2 100 Euro Nettorente liegen fast 500 Euro monatlicher Unterschied.
Zusätzlich fließen während des Krankengeldbezugs weiter Rentenversicherungsbeiträge; jeder Kalendermonat bringt Entgeltpunkte, die später die endgültige Altersrente erhöhen. Wer also wartet, bis das Krankengeld ausläuft oder die Regelaltersgrenze naht, erhält am Ende häufig eine spürbar höhere Rente, ohne jemals unrechtmäßig Leistungen bezogen zu haben.
Und bei einer anerkannte Schwerbehinderung?
Ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 eröffnet den Zugang zur Altersrente für schwerbehinderte Menschen – in der Regel ab 63 Jahren ohne Abschlag. Trotzdem bleibt diese Rente freiwillig.
Die Schwerbehinderung ändert nichts daran, dass das Krankengeld prioritätslos weiterläuft, solange Arbeitsunfähigkeit besteht und der Höchstzeitraum nicht überschritten ist.
Wer aus gesundheitlichen Gründen nicht erwerbsfähig bleibt, kann später immer noch einen Rentenantrag stellen; bis dahin geht kein Anspruch verloren.
Was geschieht, wenn die Krankengeldphase endet?
Ist die Blockfrist ausgeschöpft, spricht man von der „Aussteuerung“. Viele Versicherte melden sich anschließend beim Arbeitsamt und erhalten – sofern die Voraussetzungen erfüllt sind – Arbeitslosengeld I. Parallel prüfen sie, ob eine Alters- oder Erwerbsminderungsrente beantragt werden soll.
Dieser Übergang verläuft geregelt; weder Krankenkasse noch Rentenversicherung dürfen rückwirkend Leistungen kürzen, solange die formalen Voraussetzungen im jeweiligen Zeitabschnitt erfüllt waren.
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Handelt es sich um eine moralische Grauzone?
Das Sozialversicherungssystem beruht auf Beiträgen, die Beschäftigte und Arbeitgeber über Jahre hinweg einzahlen. Krankengeld ist eine Versicherungsleistung, kein Almosen.
Wer sie in Anspruch nimmt, nutzt lediglich ein Recht, das in denselben Gesetzen verankert ist wie die Altersrente. Von „Betrug“ kann weder juristisch noch ethisch die Rede sein, solange der Versicherte ehrlich arbeitsunfähig gemeldet ist und keinen anderen Leistungstatbestand – etwa Erwerbstätigkeit – verschweigt.
Welche Schritte sind jetzt ratsam?
Versicherte sollten ihre Bescheide prüfen lassen, mit ihrem behandelnden Arzt den voraussichtlichen Genesungsverlauf besprechen und frühzeitig einen Beratungstermin bei der Renten- oder Sozialrechtsberatung vereinbaren.
So lassen sich Fristen, Nachweispflichten und mögliche Alternativen – zum Beispiel ein Rehabilitationsantrag – rechtzeitig abstimmen. Eine gut dokumentierte Krankengeschichte und klare Kommunikation mit der Krankenkasse schaffen Transparenz und verhindern Missverständnisse, bevor die Blockfrist endet.
Fazit
Wer sich entschließt, das höhere Krankengeld bis zur gesetzlichen Höchstdauer auszuschöpfen, während eine niedrigere vorgezogene Altersrente möglich wäre, verletzt kein Gesetz und begeht keinen Betrug.
“Solange Arbeitsunfähigkeit vorliegt, der Anspruch formal besteht und keine Regelaltersrente bezogen wird, ist dieser Weg absolut zulässig – und für viele Versicherte finanziell sinnvoll”, bestätigt auch der Sozialrechtsexperte Dr. Utz Anhalt.