Fรผr viele Menschen mit gesundheitlichen Einschrรคnkungen ist die Anerkennung eines hรถheren Grades der Behinderung (GdB) nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit โ sie kann existenzielle Folgen haben. Ab einem GdB von 50 gelten Betroffene als schwerbehindert und erhalten wichtige Nachteilsausgleiche: Zusatzurlaub, Kรผndigungsschutz, steuerliche Entlastungen oder frรผheren Rentenbeginn.
Nicht Gefรผhl, sondern Beweise zรคhlen
Doch der Weg dahin ist oft steinig. Hรคufig lehnen die Versorgungsรคmter hรถhere GdB-Stufen ab โ selbst bei offensichtlichen Beschwerden. Wer sich wehrt, landet nicht selten vor dem Sozialgericht. Aber Vorsicht: Der bloรe Hinweis auf den eigenen Leidensdruck oder die empfundene Ungerechtigkeit reicht nicht aus. Gerichte urteilen nach objektivierbaren Maรstรคben. Der subjektive Eindruck des Betroffenen ist dabei zweitrangig.
Das Landessozialgericht Baden-Wรผrttemberg hat im Urteil Az: L 12 SB 1769/21 gezeigt, worauf Richter besonders achten. Dieser Artikel erlรคutert, was Betroffene wissen und beachten mรผssen, um ihre Chancen auf Anerkennung eines hรถheren GdB realistisch einschรคtzen und verbessern zu kรถnnen.
Die lรผckenlose Behandlung und Therapietreue (โComplianceโ)
Einer der ersten Blickwinkel des Gerichts: Wie konsequent wurden medizinische Maรnahmen umgesetzt?
In der sozialgerichtlichen Praxis gilt: Wer unter erheblichen gesundheitlichen Problemen leidet, wird (so die richterliche Erwartung) versuchen, diese aktiv zu lindern. Dazu gehรถrt die regelmรครige รคrztliche Behandlung, das gewissenhafte Einnehmen verschriebener Medikamente und ggf. auch die Teilnahme an psychotherapeutischen oder spezialisierten Behandlungsprogrammen.
Was Gerichte negativ werten:
In der genannten Entscheidung war ein wichtiger Punkt, dass der Klรคger eine รคrztlich verordnete CPAP-Maske zur Behandlung seiner Schlafapnoe nicht nutzte. Fรผr das Gericht war das ein Indiz mangelnder โBehandlungsbereitschaftโ. รhnlich kritisch werden auch der Abbruch von Psychotherapien oder das Fernbleiben von Kontrolluntersuchungen gesehen.
Der Gesamt GdB ist keine einfache Rechenaufgabe
Viele Betroffene machen den Fehler, ihre einzelnen Diagnosen wie Bauklรถtze aufeinanderzusetzen und zu glauben, dass sich daraus der GdB summiert. Doch genau das ist nicht die Logik hinter der GdB-Bewertung.
Laut den Versorgungsmedizinischen Grundsรคtzen (VG) bildet der hรถchste Einzel GdB die Grundlage. Weitere Beeintrรคchtigungen fรผhren nur dann zu einer Erhรถhung, wenn sie zusรคtzlich, also ohne groรe รberschneidung, die Teilhabe am Leben beeintrรคchtigen.
Beispiel:
Leidet eine Person an einer generalisierten Angststรถrung, die sich besonders stark auf das Atmen fokussiert, und gleichzeitig an einer leichten COPD, wird dies nicht doppelt berรผcksichtigt. Die Einschrรคnkungen รผberschneiden sich funktionell.
Lesen Sie auch:
- Extra-Zuschuss zur Rente bei Schwerbehinderung? Experte gibt jetzt Antwort
- Schwerbehinderung: 2 Ablaufdaten auf dem Schwerbehindertenausweis โ Was ist jetzt gรผltig?
Die Bedeutung der Alltagsfรผhrung
Richter interessieren sich nicht nur fรผr Diagnosen und Laborwerte โ sie wollen wissen, wie sehr eine Person in ihrer Lebensfรผhrung tatsรคchlich eingeschrรคnkt ist.
Im Urteil L 12 SB 1769/21 achtete das Gericht besonders auf die Angaben zum Tagesablauf. Hobbys, ehrenamtliches Engagement, Sport, regelmรครige Treffen mit Freunden oder gar Urlaubsreisen รผber mehrere Wochen โ all das kann den Eindruck vermitteln, dass die โErlebnis und Gestaltungsfรคhigkeitโ weniger beeintrรคchtigt ist als behauptet.
Die Grenzen eines Privatgutachtens nach ยง 109 SGG
Viele Klรคger setzen groรe Hoffnungen in ein sogenanntes Privatgutachten nach ยง 109 SGG. Dieses ermรถglicht es Ihnen, auf eigene Kosten einen Arzt Ihrer Wahl als Sachverstรคndigen zu benennen. Das Gutachten wird dann im Gerichtsverfahren berรผcksichtigt.
Aber Vorsicht: Ein solches Gutachten ist kein Freifahrtschein zur GdB-Erhรถhung.
Im zitierten Fall lehnte das Gericht das Gutachten nach ยง 109 SGG ab, weil die darin gezogenen Schlussfolgerungen nicht mit den restlichen medizinischen Unterlagen รผbereinstimmten. Ein solches Gutachten wird nur dann entscheidungsrelevant, wenn es fachlich รผberzeugend, schlรผssig und mit der รผbrigen Aktenlage vereinbar ist.
Zusammenfassung: Goldene Regeln fรผr den Gang zum Sozialgericht
Der Weg zur Anerkennung eines hรถheren GdB โ insbesondere zur Schwelle von 50 โ ist juristisch anspruchsvoll. Wer erfolgreich sein mรถchte, sollte folgende Grundsรคtze verinnerlichen:
โ
Dokumentation vor Gefรผhl: Aussagen wie โIch leide sehrโ reichen nicht โ was zรคhlt, ist die dokumentierte Krankheitsgeschichte.
โ
Therapietreue beweist Leidensdruck: Wer sich behandeln lรคsst, zeigt dem Gericht, dass die Erkrankung real und belastend ist.
โ
รberschneidungen erkennen: GdB-Werte addieren sich nicht โ Sie mรผssen zeigen, wie sich jede Erkrankung separat auswirkt.
โ
Alltag schildern, nicht idealisieren: Seien Sie ehrlich, aber vermeiden Sie รbertreibungen โ das Gericht prรผft genau.
โ
Gutachten nutzen โ aber mit Augenmaร: ยง 109 SGG ist kein Joker, sondern ein Werkzeug. Es muss zum Rest passen.