Wer lรคnger ausfรคllt, erlebt nicht nur Sorgen, sondern schnell ein Dickicht aus Fachbegriffen, Gesetzesparagrafen und scheinbar widersprรผchlichen Fristen. Der hรคufigste Stolperstein ist die Annahme, dass jede neue Krankschreibung automatisch ein frisches Zeit- und Zahlungskonto beim Krankengeld erรถffnet. Tatsรคchlich steuert ยง 48 SGB V den Anspruch mit klaren, aber komplex wirkenden Regeln โ und genau hier setzen viele Irrtรผmer an.
Sobald eine รrztin oder ein Arzt die erste Arbeitsunfรคhigkeit wegen Krankheit A feststellt, beginnt im Hintergrund eine dreijรคhrige Blockfrist zu laufen. Innerhalb dieses 36-Monats-Fensters dรผrfen fรผr dieselbe Diagnose hรถchstens 78 Wochen Krankengeld flieรen.
Die Zeit der Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber wird dabei mitgezรคhlt, sodass Betroffene real maximal 72 Wochen Geld von der Krankenkasse erhalten. Erst mit Ablauf der Blockfrist kann wegen derselben Erkrankung wieder ein neuer Anspruch entstehen.
Entsteht mit jeder neuen Diagnose automatisch ein neuer Anspruch?
Tritt wรคhrend einer bereits bestehenden Arbeitsunfรคhigkeit eine zweite Krankheit hinzu, bildet diese Diagnose zwar eine eigene Blockfrist โ sie verlรคngert jedoch nicht den laufenden Zahlungszeitraum.
Der Gesetzgeber sieht die hinzugekommene Erkrankung als โTeil des Gesamtleidensโ: Beide Diagnosen teilen bis zum Ende der ursprรผnglichen 78 Wochen dasselbe Schicksal. Der Anspruch endet also, obwohl nun zwei Krankheitsbilder vorliegen.
Gibt es Ausnahmen, in denen eine Zweiterkrankung doch ein neues Zeitkonto startet?
Nur wenn zwischen den beiden Leiden eine echte Zรคsur liegt โ etwa eine Phase ohne Krankengeld und ohne Krankschreibung, in der die versicherte Person arbeitet, Urlaub nimmt oder der Arbeitsvermittlung voll zur Verfรผgung steht โ kann Krankheit B ein eigenstรคndiges, neues Zeitfenster erรถffnen.
Das setzt voraus, dass beide Diagnosen kausal unabhรคngig sind und sich ihre Symptome nicht รผberlappen. Erst dann beginnt fรผr die zweite Krankheit eine eigene dreijรคhrige Blockfrist samt erneut mรถglicher 78-Wochen-Zahlung.
Unterbrechungen, Urlaubstage und die Sechs-Monats-Regel
Besonders heikel ist die Frage, wann nach Aussteuerung erneut Krankengeld fรผr dieselbe Krankheit flieรen kann.
Hier gilt eine doppelte Hรผrde: Nach dem Ende der ersten Blockfrist mรผssen Betroffene mindestens sechs Monate lang weder wegen dieser Diagnose krankgeschrieben noch arbeitsunfรคhig gewesen sein โ und sie mรผssen in diesem Zeitraum erwerbstรคtig gewesen oder der Arbeitsvermittlung zur Verfรผgung gestanden haben. Erst dann lebt der Anspruch wieder auf, sobald eine neue Blockfrist startet.
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Wann endet die Blockfrist endgรผltig โ und wie geht es danach weiter?
Lรคuft die dreijรคhrige Frist ab, ohne dass ein neuer Krankengeldanspruch entsteht, ruht der Leistungsยญbereich der Krankenkasse vorerst. In der Praxis schlieรen sich oft Arbeitslosengeld nach ยง 145 SGB III (Nahtlosigkeitsregelung) oder โ bei dauerhaften Einschrรคnkungen โ Reha- oder Rentenยญverfahren an.
Die Krankenkasse kann Betroffene auรerdem frรผhzeitig auffordern, einen Reha- oder Rentenantrag zu stellen, wenn die medizinische Perspektive eine Rรผckkehr in den Job unwahrscheinlich macht.
Ein Beispiel aus der Praxis
Sabine K., 44 Jahre alt und Sachbearbeiterin in einem mittelstรคndischen Betrieb, wird am 3. April 2023 wegen einer schweren Depression arbeitsunfรคhig geschrieben.
Nach sechs Wochen Lohnfortzahlung ihres Arbeitgebers springt die Krankenkasse ein; ab 16. Mai 2023 erhรคlt Sabine Krankengeld.
Mit dem ersten Attest beginnt zugleich die dreijรคhrige Blockfrist, die bis 2. April 2026 lรคuft. Innerhalb dieser 36 Monate darf Sabine fรผr die Depression hรถchstens 78 Wochen Krankengeld beziehen โ in ihrem Fall bis 21. August 2024.
Verlauf โ eine zweite Krankheit tritt hinzu
Im Herbst 2023 entwickelt Sabine zusรคtzlich ein chronisches Schulterleiden. Ihre รrztin bescheinigt am 10. Oktober 2023 eine neue Arbeitsunfรคhigkeit mit der Hauptdiagnose โImpingement-Syndrom der rechten Schulterโ. Formal entsteht damit eine zweite Blockfrist, die bis 9. Oktober 2026 lรคuft.
Trotzdem รคndert sich an Sabines Zahlungsstrom nichts: Die Krankenkasse zahlt weiter dieselbe Leistung, weil das ursprรผngliche Zeitkonto der Depression unverรคndert maรgeblich bleibt. Der Anspruch endet weiterhin am 21. August 2024 โ unabhรคngig davon, dass nun zwei Blockfristen parallel laufen.
Unterbrechung โ die Chance auf einen neuen Anspruch
Im Frรผhjahr 2024 stabilisiert sich Sabines psychischer Zustand. Ihre รrztin hebt die Krankschreibung zum 31. Mรคrz auf. Sabine nimmt zwei Wochen Resturlaub, arbeitet ab 15. April wieder in Teilzeit und erhรคlt somit weder Krankengeld noch Arbeitslosengeld.
Am 3. Mai 2024 erleidet sie jedoch einen Meniskusriss im linken Knie โ eine Diagnose ohne Zusammenhang zu Depression oder Schulter. Die Orthopรคdin schreibt sie erneut arbeitsunfรคhig.
Hier greift jetzt die Besonderheit: Weil zwischen dem Ende der alten AU (31. Mรคrz) und der neuen Krankschreibung (3. Mai) mehr als ein Tag ohne Krankengeld lag, beginnt fรผr den Meniskusriss eine eigenstรคndige Blockfrist. Fรผr diese neue Krankheit kann Sabine ab 17. Mai 2024 โ nach der regulรคren sechswรถchigen Lohnfortzahlung โ weitere 78 Wochen Krankengeld erhalten, obwohl das Zeitkonto der Depression im August schon erschรถpft ist.
Ergebnis โ zwei Zeitkonten, zwei Enddaten
Fรผr ihre Depression endet der Anspruch endgรผltig am 21. August 2024. Fรผr das Knieleiden lรคuft eine zweite Blockfrist bis 2. Mai 2027, innerhalb derer Sabine โ sollte die Genesung lรคnger dauern โ nochmals bis zu 78 Wochen Krankengeld beziehen darf.
Das Beispiel zeigt, wie ausschlaggebend eine echte Unterbrechung ohne Krankengeld und eine klare medizinische Trennung der Diagnosen sind, um einen neuen Leistungsanspruch auszulรถsen.
Warum sollten Betroffene sich professionelle Hilfe holen?
Ob Unterbrechungszeiten anerkannt werden, Diagnosen als eigenstรคndig gelten oder Fristen exakt gezรคhlt werden, entscheidet im Zweifel รผber tausende Euro.
Schon kleine Formfehler โ etwa ein verspรคtetes Attest โ kรถnnen den Zahlungsfluss kappen. Versicherte, die sich frรผhzeitig von Sozialverbรคnden, Krankenkassen, Beratungsstellen oder spezialisierten Anwรคltinnen beraten lassen, sichern ihre Rechte und vermeiden teure Versรคumnisse.
Gerade weil Blockfristen parallel laufen kรถnnen und jede Diagnose juristisch bewertet wird, ist fachkundige Begleitung der sicherste Weg, finanzielle Einbuรen zu verhindern.