Deutschlands Jobcenter müssen bei verschlossenem Wohnungsmarkt und wenn keine ausreichende Unterstützung im Rahmen des Kostensenkungsverfahrens angeboten wurde, die tatsächliche Miete im Rahmen des Bürgergeldes (SGB II) übernehmen.
Ein Paukenschlag, in Wahrheit wird hier aber nun endlich mal wieder zu Gunsten von Bürgergeld Beziehenden die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts umgesetzt! Dieses Urteil bildet eine gute Rechtsgrundlage für weitere Widersprüche/Klagen und ist sehr hilfreich für Sozialvereine, Sozialrechtler, aber auch für Rechtsanwälte.
Inhaltsverzeichnis
Die Entscheidung stärkt die Rechte von Erwerbslosen
Leistungsempfänger von Bürgergeld auf gepasst: Wann muss das Jobcenter bei einer unangemessenen Wohnungsmiete trotzdem die tatsächlichen Mietkosten im Rahmen des Bürgergeldes übernehmen?
Anhand eines aktuellen Urteils zu den Unterkunftskosten beim Bürgergeld ( n. veröffentlicht), welches mir vom Verfahrensbevollmächtigten Rechtsanwalt Niklas Sander übersandt wurde, erkläre ich es Euch.
Das Sozialgericht Aurich hat mit einem Urteil vom 25.02.2025 – S 55 AS 378/23 – zum Bürgergeld entschieden, dass einer alleinerziehenden Mutter und ihrer schwerbehinderten Tochter (Pflegegrad 5, Rett-Syndrom) die tatsächlichen Unterkunftskosten im Rahmen des Bürgergeldes zu gewähren sind.
Die 55. Kammer des SG Aurich urteilte, dass durch die schwerwiegende Behinderung des Kindes erhebliche Zugangshemmnisse zum Wohnungsmarkt bestehen. Außerdem beeinträchtigt der umfassende Betreuungsbedarf des Kindes die zeitlichen Ressourcen der alleinerziehenden Mutter, was eine intensive Wohnungssuche unmöglich macht.
Das Jobcenter hatte keine ausreichende Unterstützung im Rahmen des Kostensenkungsverfahrens angeboten und musste daher nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts – die konkreten – tatsächlichen Kosten der Wohnung übernehmen.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gilt auch beim Bürgergeld:
Ist der Wohnungsmarkt für Leistungsempfänger verschlossen, muss das Jobcenter bei Vorliegen der Voraussetzungen und außergewöhnlicher Umstände wie Behinderung oder Krankheit die tatsächlichen Unterkunftsbedarfe übernehmen ( § 22 Abs. 1 SGB 2 ).
Das gilt auch, wenn nur die Behinderung eines Mitgliedes der Bedarfsgemeinschaft entscheidungserheblich ist, so der Verfahrensbevollmächtigte Rechtsanwalt Niklas Sander, Moormerland.
Das Sozialgericht Aurich schließt sich der Bewertung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 06.10.2022 – B 8 SO 7/21 R) dahingehend an, dass die gemeinsam wohnenden Personen auch gemeinsam zu betrachten sind hinsichtlich der Einschränkungen der Wohnungsnahme.
Jobcenter müssen auf den Einzelfall abstellen und besondere außergewöhnliche Umstände wie Behinderung/Pflegegrad 5 berücksichtigen
Das Gericht betonte, dass es ausreicht, wenn eine Person der Bedarfsgemeinschaft die notwendigen Einschränkungen wie Behinderung oder Krankheit aufweist. Als auch, dass die zeitliche Beschränkung der Mutter, aufgrund des Pflegeaufwandes für die Tochter, ebenfalls ausreichend gewesen wäre.
Wenn solche Umstände vorliegen, können tatsächliche Aufwendungen über das abstrakte Maß hinaus als angemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II anzusehen sein.
Damit können die Leistungsberechtigten auf Dauer ohne Aufwendung weiterer Mittel in der Wohnung verbleiben (vgl. BSG, Urteil vom 21.07.2021 – B 14 AS 31/20 R – ).
Individuelle Ausnahmefälle können dazu führen, dass eine Wohnung jedenfalls konkret individuell angemessen ist
Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Leistungsberechtigte individuelle und objektiv erkennbare Zugangshemmnisse zum Wohnungsmarkt aufweisen.
Der Zugang zum Wohnungsmarkt ist für Menschen insbesondere mit erkennbaren körperlichen, geistigen, psychischen oder seelischen Behinderungen generell erschwert.
Zeitliche Einschränkungen, welche sich durch Alleinerziehung ergeben – Zugangserschwernis zum Wohnungsmarkt
Der umfangreiche Betreuungsaufwand für ein schwerbehindertes Kind schränkt die Möglichkeiten eines alleinerziehenden Elternteils ( hier der Mutter ) erheblich ein, aktiv und intensiv nach alternativem Wohnraum zu suchen und kann für sich ein Zugangserschwernis darstellen.
Vermieter haben Vorbehalte bei Behinderten
Dies bereits aufgrund von Vorbehalten von Vermietern gegenüber diesem Personenkreis. Erkennbare Beeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten können die Chancen auf angemessenen Wohnraum daher signifikant mindern (So ausdrücklich BSG, Urteil vom 06.10.2022, – B 8 SO 7/21 R – ).
Jobcenter ist der Meinung, dass nur die Tochter diese Merkmale aufweist und nicht die Mutter
Das Gericht teilt hierbei die Bewertung des Jobcenters, dass die Mutter solche Hindernisse nicht aufweist. Es kann aber nicht alleine auf die Klägerin ( Mutter ) ankommen, sondern zwingend muss die Situation der schwerbehinderten Tochter in die Bewertung des Gerichtes einbezogen werden.
Das Recht zur Wohnungsnahme ist ein Grundrecht eines jeden Bürgers – Recht auf familiäres Zusammenwohnen – Art. 11 des Grundgesetzes
Dies folgt zum einen rechtlich daraus, dass die beiden als Bedarfsgemeinschaft im Sinne des SGB II anzusehen sind.
Des Weiteren folgt dies daraus, dass gemäß Art. 11 des Grundgesetzes das Recht zur Wohnungsnahme ein Grundrecht darstellt!
Hieraus folgt auch das Recht der Klägerinnen, als Familienmitglieder gemeinsam eine Wohnung zu beziehen.
Damit schließt sich das erkennende Gericht der Bewertung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 06.10.2022 – B 8 SO 7/21 R) dahingehend an, dass die gemeinsam wohnenden Personen auch gemeinsam zu betrachten sind hinsichtlich der Einschränkungen der Wohnungsnahme.
Von daher stellt sich zur Überzeugung des Gerichtes die von den Klägerin bewohnte Wohnung als individuell konkret angemessen dar.
Wichtiger Hinweis des Gerichts
Jobcenter sind bei Kostensenkungsverfahren nach der Rechtsprechung des BSG verpflichtet bei Vorliegen solcher außergewöhnlichen Umstände Beratung und Hilfestellung an zu bieten – bei Unterlassung muss das Jobcenter weiterhin die tatsächliche Miete übernehmen
Zu einer Absenkung der übernommenen Unterkunftskosten hätte es nur dann in rechtmäßiger Weise kommen können, wenn das Jobcenter als Leistungsträger individuelle Hilfestellungen im Rahmen des Kostensenkungsverfahrens gegenüber den Klägerinnen angeboten und bei Nachfrage auch
ausgeführt hätte, die objektiv erkennbar, eine abweichende Wohnungsnahme ermöglicht hätten.
Wenn das Jobcenter dieser Obliegenheit nicht nachkommt, ist grundsätzlich weiterhin von der konkreten Angemessenheit der aktuell bewohnten Wohnung auszugehen. (BSG Rechtsprechung).
Das Jobcenter darf Hilfeempfänger, die individuelle Zugangshemmnisse zum Wohnungsmarkt aufweisen, nicht ohne Weiteres auf den allgemeinen Wohnungsmarkt verweisen, sondern hat sie bei der Wohnungssuche bedarfsgerecht zu unterstützen.
Anmerkung vom Sozialrechtsexperten Detlef Brock
Das Urteil ist deshalb so einzigartig und wegweisend, weil es zu den Unterkunftskosten beim Bürgergeld ergangen ist und keine Entscheidung bekannt ist, wonach die Behinderung eines Mitgliedes der Bedarfsgemeinschaft entscheidungserheblich wäre.
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gilt auch für das Bürgergeld
Wenn solche Umstände wie Krankheit oder Behinderung vorliegen, können tatsächliche Aufwendungen über das abstrakte Maß hinaus als angemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II anzusehen sein, d. h. Das Jobcenter muss die tatsächlichen Unterkunftskosten übernehmen.
Aufgrund dieser Besonderheiten können tatsächliche Aufwendungen über das abstrakte Maß hinaus im Rahmen des § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II angemessen sein und Leistungsberechtigten einen Verbleib in der Wohnung ermöglichen oder bei einem Wohnungswechsel den verfügbaren angemessenen Wohnraum erweitern.
Das Sozialgericht Aurich beschäftigt sich mit der Frage, wann Leistungsberechtigte nach dem Bürgergeld individuelle und objektiv erkennbare Zugangshemmnisse zum Wohnungsmarkt aufweisen und welche Rechtsfolgen daraus erwachsen.
Schon in meiner Arbeitshilfe „ Wie wehre ich mich gegen eine Kostensenkungsaufforderung des Jobcenters „ hatte ich darauf hingewiesen, dass nach der Rechtsprechung des BSG auch bei unangemessenen Mietkosten weiterhin die tatsächlichen Mietbedarfe zu zahlen sind, wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen. Das aktuelle Urteil bestätigt damit meine Rechtsauffassung!
Bürgergeld: Gegen Kostensenkungsverfahren der Jobcenter oder Sozialämter wehren
Praxistipp für alle Bezieher von Bürgergeld
Behörden nach dem SGB 2 wie Jobcenter dürfen keine bloßen Mutmaßungen anstellen, dass geeigneter Wohnraum auch bis zur Mietobergrenze gefunden werden könne.
Selbst eine noch teurere Wohnung kann nach dem Umzug – angemessen sein.
In diesem Artikel habe ich versucht Euch zu erklären, warum im Einzelfall selbst bei einer zu teureren Wohnung eine Bürgergeld – Familie eine noch teurere Wohnung anmieten kann, wenn der Einzelfall es erforderlich macht. Dies ist immer der Fall ( BSG Rechtsprechung ), wenn relevante Besonderheiten des Einzelfalls vorliegen, dann können tatsächliche Aufwendungen über das abstrakte Maß hinaus im Rahmen des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II angemessen sein und bei einem Wohnungswechsel den verfügbaren angemessenen Wohnraum erweitern.
Hierzu gehören namentlich Aufwendungen, die behinderungsbedingt anfallen ( BSG, Urteile vom 22. August 2012 – B 14 AS 13/12 R – und vom 21. Juli 2021 – B 14 AS 31/20 R -).
Bürgergeld: Jobcenter dürfen keine bloßen Mutmaßungen anstellen – Wegweisendes Urteil
Das Urteil wurde aufgearbeitet von Detlef Brock. Mein Dank gilt RA N. Sander für die Bereitstellung.