Bürgergeld: Jobcenter dürfen keine bloßen Mutmaßungen anstellen – Wegweisendes Urteil

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Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen rügt das Jobcenter, denn die Behörde hat einer Mutter mit ihren fünf Kindern, 1 Kind davon schwerbehindert und pflegebedürftig, alleine gelassen.

Denn: Behörden nach dem SGB 2 dürfen keine bloßen Mutmaßungen anstellen, dass geeigneter Wohnraum auch bis zur Mietobergrenze gefunden werden könne.

Das Landessozialgericht Niedersachsen – Bremen rügt das Jobcenter wegen seiner – bloßen Mutmaßung, die hilfebedürftige Mutter könne für sich und ihre fünf Kinder, dabei 1 Kind schwerbehindert mit Pflegestufe 4 – eine behindertengerechte Wohnung für Rollstuhlbenutzer finden (LSG Niedersachsen – Bremen Az. L 13 AS 185/23 B ER).

Das Jobcenter muss bei marktengem Wohnraum eine höhere Miete übernehmen aufgrund der familiären Besonderheiten, dass entspricht der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu den Unterkunftskosten beim Bürgergeld und Sozialhilfe.

Persönliche Lebensumstände des Einzelfalls müssen vom Jobcenter berücksichtigt werden – BSG Rechtsprechung – Viele Jobcenter berücksichtigen aber den – Einzelfall – eben nicht

Die persönlichen Lebensumstände sind bei der Prüfung der Angemessenheit der Kosten nicht unbeachtlich, schon weil § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II die Umstände des Einzelfalls ausdrücklich in Bezug nimmt.

Liegen relevante Besonderheiten des Einzelfalls vor, können tatsächliche Aufwendungen über das abstrakte Maß hinaus im Rahmen des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II angemessen sein und bei einem Wohnungswechsel den verfügbaren angemessenen Wohnraum erweitern.

Hierzu gehören namentlich Aufwendungen, die behinderungsbedingt anfallen (vgl. Bundessozialgericht Urteile vom 22. August 2012 – B 14 AS 13/12 R – und vom 21. Juli 2021 – B 14 AS 31/20 R -).

Jobcenter dürfen keine bloßen Mutmaßungen anstellen, dass geeigneter Wohnraum auch bis zur Mietobergrenze gefunden werden könne

Denn können die Antragstellerin und ihre Familie – anders als das Jobcenter meint – nicht darauf verwiesen werden, in der bisherigen Wohnung zu verbleiben mit der Folge, dass der schwerbehinderte Sohn auf unabsehbare Zeit von der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft weitgehend ausgeschlossen ist.

Bei marktengem Wohnraum kann eine Zusicherung zu den neuen Mietkosten bereits im Eilverfahren erfolgen

Aus Gründen der Effektivtät des Rechtsschutzes ist es unter engen Voraussetzungen zulässig, den zuständigen Träger bereits im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zur Erteilung einer endgültig wirkenden Zusicherung nach § 22 Abs. 4 SGB II zu verpflichten.

Besonderheiten des Einzelfalls – hier rollstuhlgerechte Wohnung für schwerbehindertes Kind – sind vom Jobcenter grundsätzlich zu berücksichtigen

Liegen relevante Besonderheiten des Einzelfalls vor, können tatsächliche Aufwendungen über das abstrakte Maß hinaus im Rahmen des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II angemessen sein und bei einem Wohnungswechsel den verfügbaren angemessenen Wohnraum erweitern.

Erschwerter Zugang zum Wohnungsmarkt für Menschen mit geistigen, psychischen und seelischen Behinderungen

Bei der erforderlichen Würdigung der personenbezogenen Umstände des Einzelfalls ist zu berücksichtigen, dass der Zugang zum Wohnungsmarkt für Menschen mit geistigen, psychischen und seelischen Behinderungen – wie den Sohn der Antragstellerin – ohnehin erschwert ist (vgl. BSG, Urteil vom 6. Oktober 2022 – B 8 SO 7/21 -).

Das Jobcenter meint – die Antragstellerin habe sich in der Vergangenheit nicht ausreichend um geeigneten Wohnraum bemüht oder jedenfalls solche Bemühungen nicht nachgewiesen

Unrelevant meinen die obersten Richter des LSG Niedersachsen-Bremen

Denn Leistungen der Grundsicherung werden für Arbeitsuchende unabhängig von einem etwaigen Verschulden der Leistungsberechtigten in der Vergangenheit gewährt (vgl. BSG, Urteil vom 12. Mai 2021 – B 4 AS 66/20 R – ).

Insbesondere kann der schwerbehinderte Sohn der Antragstellerin, der gegenwärtig in seinem Anspruch auf volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft – massiv beeinträchtigt ist – , nicht darauf verwiesen werden, in der für seine Bedürfnisse gänzlich ungeeigneten Wohnung zu verbleiben, weil seine Mutter es in der Vergangenheit (vermeintlich) an ausreichenden Bemühungen bei der Wohnungssuche hat fehlen lassen.

Fazit

1. Liegen relevante Besonderheiten des Einzelfalls vor, können tatsächliche Aufwendungen über das abstrakte Maß hinaus im Rahmen des § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II angemessen sein und bei einem Wohnungswechsel den verfügbaren angemessenen Wohnraum erweitern.

2. Bei der erforderlichen Würdigung der personenbezogenen Umstände des Einzelfalls ist zu berücksichtigen, dass der Zugang zum Wohnungsmarkt für Menschen mit geistigen, psychischen und seelischen Behinderungen ohnehin erschwert ist (vgl. BSG, Urteil vom 6. Oktober 2022 – B 8 SO 7/21 -).

3. Aus Gründen der Effektivtät des Rechtsschutzes ist es unter engen Voraussetzungen zulässig, den zuständigen Träger bereits im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zur Erteilung einer endgültig wirkenden Zusicherung nach § 22 Abs. 4 SGB II zu verpflichten.

Anmerkung vom Sozialrechtsexperten Detlef Brock

Was für eine Schelte für das Jobcenter, doch verdient.

Das Jobcenter hat hier keine gute Arbeit gemacht, im Gegenteil, bloße Mutmaßungen wurden angestellt, so etwas sehen die Richter des LSG NSB gar nicht gerne.

Hier hat die Behörde nicht seine Hausaufgaben gemacht, denn die Rechtsprechung des BSG zu den Unterkunftskosten wurde – einfach missachtet!!

Das Jobcenter muss bei marktengem Wohnraum eine höhere Miete übernehmen aufgrund der familiären Besonderheiten, dass entspricht der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu den Unterkunftskosten beim Bürgergeld und Sozialhilfe.

Zu berücksichtigen sind besondere Umstände wie u.a. Krankheit, Behinderung, Pflegebedürftigkeit, soweit diese Faktoren nach den Umständen des Einzelfalls Auswirkungen auf den Unterkunftsbedarf haben.

Liegen solche Besonderheiten vor, können tatsächliche Aufwendungen über das abstrakte Maß hinaus im Rahmen des § 22 Abs. 1 SGB Ii sowie § 35 Abs. 1SGB XII angemessen sein und dem Leistungsberechtigten einen Verbleib in der Wohnung ermöglichen (BSG Urteil vom 06.10.2022 – B 8 SO 7/21 R – , Urteil vom 21.07.2021 – B 14 AS 31/20 R – ).