BSG entschärft „Genehmigungsfiktion” bei Leistungsanträgen
Kassel (jur). Das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel hat die „Genehmigungsfiktion” bei zu langsam arbeitenden Krankenkassen deutlich entschärft. Versäumt die Kasse die gesetzlichen Fristen zur Bescheidung eines Leistungsantrags, führt dies nach einem am Dienstag verkündeten Grundsatzurteil nur noch zu einem Anspruch auf Kostenerstattung (Az.: B 1 KR 9/18 R). Der bisherige Sachleistungsanspruch entfällt. Fehlen zunächst Geld oder Gelegenheit, sich die Leistung selbst zu beschaffen, geht daher der Anspruch durch eine spätere Kassenablehnung verloren.
„Der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz gebietet es nicht, mittellosen Versicherten Leistungen zu gewähren, auf die sie nach allgemeinem GKV-Leistungsrecht keinen Anspruch haben”, erklärte das BSG zur Begründung. Dagegen sieht der Sozialverband VdK durch die neue Rechtsprechung das Gleichheitsgebot verletzt. Der Verband werde daher eine Verfassungsbeschwerde prüfen, sagte VdK-Jurist Jörg Ungerer nach der Urteilsverkündung.
Seit einer Gesetzesänderung aus 2013 haben die Krankenkassen drei Wochen Zeit, einen Leistungsantrag zu bearbeiten. Holen sie ein Gutachten des Medizinischen Dienstes ein, müssen die Kassen den Versicherten innerhalb von drei Wochen darüber informieren und haben dann insgesamt fünf, bei Zahn-Leistungen sechs Wochen Zeit, über den Antrag zu entscheiden. Werden diese Fristen ohne wichtigen Grund nicht eingehalten, „gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt”, heißt es im Sozialgesetzbuch.
Diese Regeln hatte das BSG erstmals 2016 betont (Urteil Az.: B 1 KR 25/15 R) und danach mehrfach gegen Einwände der Krankenkassen verteidigt und konkretisiert (zuletzt Urteile vom 27. August 2019, Az.: B 1 KR 36/18 R und weitere). Bei Fristversäumnis bestand danach ein Anspruch auf Sachleistung oder Kostenerstattung, soweit Versicherte die Leistung für erforderlich halten durften.
In neuer Besetzung unter BSG-Präsident Rainer Schlegel gab der zuständige Erste BSG-Senat diese versichertenfreundliche Rechtsprechung nun weitgehend auf. Ein Anspruch auf Sachleistung besteht danach nicht mehr. Vielmehr führt die Genehmigungsfiktion nur noch zu einem „vorläufigen” Anspruch auf Kostenerstattung, wenn sich der Versicherte die Leistung selbst beschafft hat und zu diesem Zeitpunkt „gutgläubig” war. Zur Begründung erklärten die Kasseler Richter, nach den Gesetzesmaterialien habe der Gesetzgeber mehr als einen Kostenerstattungsanspruch nicht gewollt.
Nach der neuen Rechtsprechung soll die Kasse auch nach Fristablauf aber noch eine inhaltliche Entscheidung treffen. Fällt diese negativ aus, geht die angenommene Gutgläubigkeit verloren. Ein Kostenerstattungsanspruch für später verschaffte Leistungen besteht für Versicherte dann nicht mehr.
Im konkreten Fall leidet der vom Sozialverband VdK vertretene Kläger unter einer sogenannten Kleinhirnatrophie. Damit verbundene Gangstörungen wollte sein Arzt mit dem Medikament „Fampyra” behandeln. Dies ist allerdings nur für Gangstörungen bei Multipler Sklerose zugelassen. Ein solcher „Off-Label-Use” abseits der Zulassung wird ohne Genehmigung von den gesetzlichen Krankenkassen nicht bezahlt.
Der Patient probierte das Medikament zunächst auf eigene Kosten aus. Weil es sich bewährte, beantragte sein Arzt für die weitere Behandlung die Kostenübernahme durch die Kasse.
Erst nach fast drei Monaten lehnte die Kasse dies ab. Weil alle Fristen verstrichen waren, war in der Vorinstanz das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz in Mainz noch davon ausgegangen, dass die Behandlung als „fiktiv genehmigt” gilt.
Diese Entscheidung hob das BSG nun auf. Ein Anspruch auf weitere Kostenübernahme wegen einer „Genehmigungsfiktion” scheide aus, seitdem die Krankenkasse dies abgelehnt habe. Allerdings soll das LSG Mainz noch prüfen, ob hier andere rechtliche Grundlagen für eine Kostenübernahme bestehen.
Damit überhaupt eine Genehmigungsfiktion entstehen kann, muss sich nach einem weiteren Urteil ein Leistungsantrag generell auf eine Sachleistung richten. Im Streitfall wies das BSG die Klage ab, weil die Klägerin von vornherein nur eine Kostenerstattung und damit Geld beantragt hatte (Az.: B 1 KR 21/19 R). mwo/fle
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