Ein Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg (13. März 2025, L 6 SB 2427/24) zeigt: Ein hoher Grad der Behinderung allein sichert keine kostenlosen Fahrten im Nahverkehr. Die Richter lehnten die Merkzeichen „G“ (erhebliche Gehbehinderung) und „B“ (Begleitperson) ab, obwohl der Kläger einen GdB 80 besitzt.
Entscheidende Kriterien sind objektiv nachweisbare Mobilitäts- oder Orientierungsprobleme – nicht das Lebensalter oder psychische Belastungen.
Inhaltsverzeichnis
Warum dieses Urteil viele Betroffene betrifft
Die kostenlose ÖPNV-Nutzung mit Wertmarke bedeutet spürbar weniger Ausgaben. Wer Bürgergeld oder eine kleine Rente bezieht, spart mehrere hundert Euro pro Jahr. Das Urteil verdeutlicht jedoch: Nur wer eine „wesentliche“ Einschränkung seiner Bewegungsfähigkeit belegt, erhält den begehrten Nachteilsausgleich.
Was die Richter konkret entschieden
Kein Merkzeichen „G“: Schmerzen durch Fersensporn und Knorpelschaden reichten den Richtern nicht. Die Gehstrecke des Klägers lag laut Arzt bei etwa zwei Kilometern – damit bewegte er sich noch oberhalb der Schwelle, die die Versorgungsmedizinischen Grundsätze als ortsüblich ansehen.
Kein Merkzeichen „B“: Weil „B“ das Vorliegen von „G“, „H“ (Hilflosigkeit) oder „Gl“ (Gehörlosigkeit) voraussetzt, entfiel automatisch auch die Begleitperson.
Psychische Erkrankungen fallen raus: Eine impulsive Persönlichkeitsstörung gefährdet möglicherweise Mitmenschen, beeinträchtigt aber nicht das Gehen oder Orientieren. Ohne objektive Mobilitätsdaten half das Argument nicht.
Lesen Sie auch:
- Schwerbehinderung: Alle Steuervorteile für behinderte Menschen in 2025
- Schwerbehinderung: Das neue Barrierefreiheit-Gesetz – Was sich jetzt ändert
Was zählt wirklich für Merkzeichen „G“
- Gehstrecke unter zwei Kilometern – nachweisbar durch ärztliche Tests, GPS-Protokolle oder Rehaberichte.
- Hilfsmittelbedarf – etwa Rollator, Unterarmgehstützen oder Gehtraining auf Rezept.
- Schwere innere Leiden – Herzinsuffizienz ab Belastungsgruppe III, COPD mit deutlicher Lungenfunktionseinschränkung oder ähnlich drastische Diagnosen.
Beispiel: Wer bei 800 Metern schmerzbedingt anhalten muss und einen Rollator nutzt, hat deutlich bessere Chancen als jemand, der „nur“ schnelle Ermüdung schildert.
Psychische Erkrankungen: Wann sie doch helfen können
Eine Angststörung, die Tunnel oder Aufzüge vermeidet, kann das Gehen verlängern. Voraussetzung: Die Einschränkung wird fachärztlich dokumentiert und auf die Wegstrecke bezogen. bloße Konfliktangst genügt nicht.
Tipps für Ihren Antrag oder Widerspruch
Lassen Sie Ihren Gehtest – auf dem Laufband oder im Außengelände – unbedingt schriftlich bestätigen, damit objektive Daten vorliegen. Führen Sie parallel ein Symptombuch und notieren darin Datum, Strecke, Abbruchgrund sowie Schmerzintensität.
Binden Sie anschließend Fachärzte wie Orthopäden, Neurologen oder Pneumologen ein; sie sollen klar festhalten, wie jede Diagnose Ihr Gehvermögen beeinträchtigt.
Passen Sie zuletzt die Sprache Ihres Antrags an: Beschreiben Sie nicht nur den Schmerz, sondern dessen messbare Folgen – etwa Gehstopps, Pausen oder drohende Stürze.
Begleitperson („B“): So belegen Sie den Bedarf
Eine ständige Begleitperson wird anerkannt, wenn Sie beim Ein- oder Aussteigen regelmäßig Hilfe benötigen oder unterwegs die Orientierung verlieren könnten.
Als Nachweise eignen sich vor allem schriftliche Berichte des Fahrpersonals über geleistete Hilfe, Protokolle dokumentierter Stürze im Bus sowie ärztliche Bescheinigungen, die kognitive Ausfälle bestätigen.
Häufige Irrtümer
Mythos | Realität |
„GdB 50 reicht, ‘G’ kommt automatisch.“ | Falsch. Ohne gehrelevante Befunde bleibt der Antrag erfolglos. |
„Schmerzen sind Beweis genug.“ | Nein. Erst ihr Effekt auf die Wegstrecke überzeugt. |
„Psychische Krankheit = Orientierungsstörung.“ | Nur bei nachgewiesener räumlicher Desorientierung. |
Aktuelle Kosten und Ausnahmen bei der Wertmarke 2025
Seit 1. Januar 2025 beträgt der Eigenanteil für die ÖPNV-Wertmarke 104 Euro pro Jahr oder 53 Euro für ein Halbjahr – ein Plus von 13 Euro gegenüber 2024. Menschen mit den Merkzeichen G, aG oder Gl, die Bürgergeld, Grundsicherung, Hilfe zum Lebensunterhalt oder Kriegsopferfürsorge beziehen, erhalten die Wertmarke weiterhin gratis.
Wer Sozialleistungen bezieht, sollte diese Befreiung unbedingt im Antrag erwähnen und das entsprechende Leistungsbescheid-Kürzel (z. B. „SGB II“) beilegen.
Deutschlandticket & regionale Sozialtickets als Alternativen
Das bundesweite Deutschlandticket steigt ab 1. Januar 2025 auf 58 Euro im Monat. Einige Bundesländer bieten vergünstigte Varianten an (Berlin: 29 Euro-Abo, Nordrhein-Westfalen: 39 Euro Sozialticket). Schwerbehinderte ohne Merkzeichen G könnten damit trotzdem preiswert mobil bleiben.
Fristen, Kostenfreiheit und Prozesskostenhilfe vor den Sozialgerichten
Widerspruch: 1 Monat nach Zugang des Bescheids, keine Gebühren.
Klage beim Sozialgericht: Ebenfalls gebührenfrei; Anwaltszwang besteht erst vor dem Landessozialgericht.
Prozesskostenhilfe (PKH): Nur nötig, wenn man sich bereits im erstinstanzlichen Verfahren anwaltlich vertreten lässt. Voraussetzung sind niedrige Einkünfte und „hinreichende Erfolgsaussicht“.