Schwerbehinderung: Untersuchung im GdB-Verfahren – Fangfragen erkennen, Fehler vermeiden

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Eine Begutachtung im GdB-Verfahren entscheidet häufig nicht an Diagnosen, sondern an Details: Wie belastbar ist eine Person im Alltag, wie oft kippt die Situation, welche Hilfen sind nötig, welche Folgen treten nach Belastung auf.

Genau deshalb werden im Termin harmlose Sätze wie „Das geht schon“ schnell zum Problem, wenn sie später ohne Kontext als „voll möglich“ im Gutachten auftauchen.

Wer den Termin wie ein kurzes Prüfungsgespräch behandelt, riskiert Missverständnisse; wer ihn wie eine strukturierte Sachverhaltsaufnahme vorbereitet, kann Rechte sichern, Befunde sauber nachreichen und fehlerhafte Aussagen rechtssicher korrigieren.

Der grundsätzliche Fehler, der am meisten schadet

Viele Betroffene beantworten Fragen im Modus „Ja/Nein“ oder „Heute geht es“, obwohl die Realität aus Bedingungen, Grenzen und Folgewirkungen besteht. Eine kurzfristige Kompensation im Termin (Stress, Adrenalin, Routine) wird dann fälschlich als dauerhafte Leistungsfähigkeit gelesen.

Das lässt sich vermeiden, wenn Antworten konsequent so formuliert werden, dass sie in einer Akte funktionieren: nicht die Fähigkeit an sich, sondern Rahmenbedingungen, Grenze und Folgen.

Vor dem Termin: Vorbereitung, die spätere Streitfragen verhindert

Ein Funktions-Steckbrief statt Diagnoseliste

Ein kurzer Steckbrief hilft, im Termin nicht zu „erzählen“, sondern belastbar zu beschreiben. Er sollte die Alltagseinschränkungen als messbare oder beobachtbare Größen festhalten: Gehstrecke, Stehzeit, Sitzzeit, notwendige Pausen, Häufigkeit guter/schlechter Tage, Hilfsmittel, Hilfe durch Dritte, Nachwirkungen nach Belastung, Sicherheitsrisiken (Sturz, Schwindel, Überforderung), typische Auslöser sowie typische Abbruchpunkte.

Je konkreter diese Angaben sind, desto weniger Raum bleibt für das Missverständnis „geht doch“.

Befunde: zielgerichtet sammeln – und notfalls nachreichen

Befunde wirken nicht durch Umfang, sondern durch Passung. Besonders hilfreich sind Unterlagen, die Funktionsfragen beantworten: Belastbarkeit, Befund-/Verlaufsdaten, Therapieresultate, Medikamenteneffekte, Nebenwirkungen, Hilfsmittelbedarf, Einschränkungen über mindestens sechs Monate.

Wenn aktuelle Berichte fehlen, sollte das nicht durch mündliche Erklärungen „ersetzt“ werden. Besser ist eine aktenfähige Ankündigung, dass ein Bericht angefordert wurde und nachgereicht wird – mit Benennung der Praxis, Fachrichtung und des erwarteten Zeitraums.

Praktischer Workflow fürs Nachreichen (kurz und aktenkompatibel): Deckblatt mit Aktenzeichen und Datum, darunter eine Zuordnung „Befund X → belegt Einschränkung Y“, anschließend die Anlagen in chronologischer Reihenfolge. So wird verhindert, dass Unterlagen zwar eingehen, aber im Kern an der Bewertung vorbeilaufen.

Begleitperson: sinnvoll, oft möglich, aber mit sauberer Rollenklärung

Eine Begleitperson ist im GdB-Verfahren häufig der wirksamste Schutz gegen spätere Streitfragen, weil sie den Ablauf stabilisiert, an Unterlagen erinnert und kritische Passagen später bestätigen kann. Wichtig ist jedoch die Unterscheidung:

Bei behördlichen Gesprächen ist Unterstützung durch Beistand ein etablierter Mechanismus; bei ärztlichen Untersuchungen ist die Begleitung in der Praxis oft möglich, kann aber im Einzelfall eingeschränkt werden, etwa auf den Gesprächsteil (Anamnese) oder wegen des Untersuchungsablaufs.

Wo es Einschränkungen gibt, hilft eine ruhige, schriftlich dokumentierbare Klärung statt Streit im Raum.

Damit eine Begleitung nicht als Störung bewertet wird, sollte die Rolle klar bleiben: Die Begleitperson unterstützt organisatorisch und als Gedächtnisstütze, sie führt keine Diskussionen und beantwortet keine medizinischen Fragen an Stelle der betroffenen Person.

Kurzer Ankündigungsbaustein:
„Zum Termin am [Datum] wird eine Begleitperson anwesend sein (Name). Die Begleitung dient ausschließlich der Unterstützung bei Organisation und Gedächtnis; eine Beeinträchtigung des Ablaufs ist nicht beabsichtigt.“

Im Termin: „Fangfragen“ entschärfen, ohne zu diskutieren

Viele „Fangfragen“ sind keine Absicht, sondern unpräzise Abkürzungen. Problematisch wird es, wenn Betroffene aus Höflichkeit verkürzen und der Kontext verschwindet. Deshalb ist eine standardisierte Antwortform sinnvoll: Bedingung – Grenze – Folgen in einem Satz, möglichst mit Zahlen oder klaren Alltagsmarkern.

Typische Fragen und aktenfeste Antworten

Typische Frage / Aussage Aktenfeste Antwort (Bedingung – Grenze – Folgen)
„Können Sie einkaufen?“ „Nur eingeschränkt: kurze Strecken, häufig mit Pausen oder Unterstützung; danach regelmäßig Erschöpfung/Schmerzanstieg, oft auch am Folgetag deutlich reduziert.“
„Treppen gehen klappt doch.“ „Eine Etage ist manchmal möglich, langsam und mit Geländer; mehrere Etagen werden vermieden, danach entsteht häufig deutlicher Schmerz und Pausenbedarf.“
„Sie sind heute alleine gekommen.“ „Die Anreise ist eine Ausnahmeleistung; danach treten regelmäßig Erschöpfung und Einschränkungen auf, im Alltag ist das nicht zuverlässig wiederholbar.“
„Was machen Sie tagsüber?“ „Tätigkeiten gelingen nur in kurzen Abschnitten mit Unterbrechungen; an aufeinanderfolgenden Tagen ist es häufig nicht stabil möglich.“
„Wie war der Schlaf?“ „Unruhig und häufig unterbrochen; das zeigt sich am Folgetag in Konzentration, Belastbarkeit und Stimmung, oft mit Rückzug und Pausen.“

Wichtig ist, dass Einschränkungen nicht „übertrieben“ werden müssen, aber ebenso wenig verharmlost werden dürfen. Es geht nicht um die Behauptung „nichts geht“, sondern um eine realistische Darstellung der Teilhabe – mit Grenzen und Kosten.

Wenn es kippt: Pausen, Abbruch, Nachtermin – ohne als „Verweigerung“ zu wirken

Begutachtungen können körperlich oder psychisch kippen, vor allem wenn Schmerzen, Schwindel, Panik, Überforderung oder Erschöpfung zunehmen. In solchen Situationen ist es oft entscheidend, dass Betroffene nicht „durchziehen“, um nicht „schwierig“ zu wirken, sondern den Zustand sachlich benennen und den Ablauf geordnet halten.

Ein praxistaugliches Vorgehen lautet: Symptome kurz benennen, Pause verlangen, danach entscheiden, ob Fortsetzung realistisch ist. Wenn nicht, sollte ein Abbruch nicht als Diskussion geführt werden, sondern als dokumentierbarer Punkt: „Fortsetzung heute nicht möglich, Nachtermin erforderlich.“ Eine Begleitperson hilft hier, weil sie den Ablauf mitträgt und spätere Formulierungsstreitigkeiten reduziert.

Gedächtnisprotokoll: das sichere Gegenmittel gegen „so war das nicht“

Ein Gedächtnisprotokoll ist kein Angriff, sondern eine aktenfähige Sicherung. Es sollte am selben Tag entstehen, knapp, sachlich und ohne Diagnoseromantik. Ziel ist nicht, die Untersuchung zu bewerten, sondern festzuhalten, was gefragt, was geantwortet und was möglicherweise missverständlich verkürzt wurde.

Vorlage: Gedächtnisprotokoll in 8 Zeilen

Feld Inhalt
Termin Datum, Uhrzeit, Dauer, Ort
Beteiligte Name untersuchende Person; anwesende Begleitperson
Ablauf Kurz: Gespräch / Tests / Untersuchungsteile
Kernfragen 3–6 Stichpunkte: Frage – Antwort in eigenen Worten
Kritische Passage Wörtlich/nahezu wörtlich: „Frage … / Antwort …“
Nicht erhoben Was fehlte (z. B. keine Belastung, keine Pausenabfrage)
Unmittelbare Folgen Schmerzen/Erschöpfung nach dem Termin
Folgetag Einschränkungen am nächsten Tag (falls vorhanden)

Das Protokoll muss nicht sofort „abgesendet“ werden; es sollte jedoch bereitliegen, falls sich im Gutachten Formulierungen finden, die korrigiert werden müssen.

Was zum Termin mitgenommen werden sollte (kurz, praxistauglich)

Mitnahme Zweck
Funktions-Steckbrief (1 Seite) verhindert Abschweifen, sichert Parameter
Mappe mit relevanten Befunden schnelle Zuordnung statt „später irgendwo“
Medikamentenplan / Hilfsmittelangaben Belastbarkeit und Nebenwirkungen nachvollziehbar
Notizen zu guten/schlechten Tagen verhindert Verharmlosung im Termin
Schreibzeug / Uhrzeitnotiz Basis fürs Gedächtnisprotokoll
Begleitperson (wenn möglich) Stabilität, Gedächtnisstütze, Zeugenschaft

Ton-/Videoaufnahmen: weshalb Begleitperson und Protokoll der sichere Weg sind

Viele denken an Aufnahmen, um „Beweise“ zu haben. In der Praxis ist das rechtlich riskant und kann das Verfahren zusätzlich belasten. Der verlässlichere Weg ist die Kombination aus Begleitperson, zeitnahem Gedächtnisprotokoll und einer sachlichen Klarstellung, wenn Formulierungen im Gutachten nicht stimmen.

FAQ

Kann eine Begleitperson im Termin dabei sein?
Bei behördlichen Gesprächsteilen ist Unterstützung regelmäßig unproblematisch. Bei ärztlichen Untersuchungen ist Begleitung häufig möglich, kann im Einzelfall aber auf bestimmte Teile beschränkt werden; hilfreich ist eine vorherige Ankündigung mit klarer Rollenbeschreibung.

Was ist die beste Antwort auf „Das geht doch“?
Eine präzise Einordnung in einem Satz: unter welchen Bedingungen es geht, wo die Grenze liegt und welche Folgen auftreten. So wird aus einem „Ja“ kein Freifahrtschein.

Wann sollten Befunde nachgereicht werden?
So früh wie möglich, strukturiert und mit Zuordnung zur Funktionsfrage. Eine knappe Ankündigung, dass ein Bericht angefordert wurde, verhindert Lücken, bis das Dokument vorliegt.

Wie wird eine falsche Darstellung später korrigiert?
Nicht allgemein („das stimmt nicht“), sondern punktgenau mit Terminbezug, korrekter Formulierung, Parametern und – wenn möglich – passenden Anlagen.

Quellenübersicht

  • SGB IX: § 152 (Feststellung der Behinderung)
  • Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) inkl. Versorgungsmedizinische Grundsätze (Anlage)
  • SGB X: § 13 (Beistände/Bevollmächtigte), § 20 (Amtsermittlung), § 24 (Anhörung), § 25 (Akteneinsicht)
  • SGB I: § 62 (Untersuchungen), § 65 (Grenzen der Mitwirkung), § 65a (Aufwendungsersatz), § 66 (Folgen fehlender Mitwirkung)
  • Bundessozialgericht: Urteil vom 27.10.2022 – B 9 SB 1/20 R (Vertrauensperson bei gerichtlich angeordneter Untersuchung)